Von der Liebe besessen: Bodo Kirchhoffs neuer Roman über seine »frühen Jahre«

Für seine Novelle »Widerfahrnis« hat er vor zwei Jahren den Deutschen Buchpreis erhalten, eine unserer wichtigsten literarischen Auszeichnungen. Bereits ein Jahr später erschien die Erzählung »Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt«. Jetzt, Ende Juni 2018, erscheint, knapp 500 Seiten lang, »Dämmer und Aufruhr. Roman der frühen Jahre«. Ein Vorhaben, das ihn schon sehr, sehr lange umtreibt. Das er aber erst richtig in Angriff nehmen konnte nach dem Tod seiner Mutter, die 2014 im Alter von 89 Jahren gestorben ist. Anfang Juli wird er selber siebzig. Feiern will er an seinem zweiten Wohnsitz, dem Gardasee. Sicher nicht unbeschwert, eher ungeduldig. Die Arbeit ruft, denn längst schon sitzt er an einem neuen Buch.

Der große Roman »Dämmer und Aufruhr« kann als eine Art Autobiographie (seiner frühen Jahre) gelesen werden. Er bewegt sich auf dem schmalen Grad zwischen Erotik und Sexualität und muss als ein Versuch verstanden werden, den Ursprung seiner Besessenheit zu ergründen. Kirchhoff ist besessen von dem, was er schreibt. Und er schreibt (deshalb?) auch wie besessen. Allerdings auf der Höhe seiner sprachlichen Fähig- und Fertigkeiten.
Der vierjährige Bodo verbringt, 1952, mit seiner Mutter ein paar Wochen in Kitzbühl. Die Mutter, Schauspielerin, ihr Fach »die flattrige Schöne, die dem Helden den Kopf verdreht«. Er darf den »Sommerkavalier« geben für seine „Dame Mammi“. In der Mittagszeit, wenn die Mutter schläfrig, bäuchlings, nackt auf dem Bett liegt, er neben ihr, da beginnen seine Entdeckungsreisen.
Kirchhoff hat sich zum Schreiben dieses »Romans der frühen Jahre« in dem kleinen Hotel »Beau Sejour« in Alassio an der Riviera einquartiert. Seine Eltern hatten dort an ihrem »vermutlich letzten Glücksort« einige Zeit verbracht. Von hier aus, hofft er, ihnen besonders nahe kommen zu können. Der Roman beschreibt seine Kindheit, Jugend und die Zeit als junger Student. Er kämpft an der »Front des Gewesenen«, springt aber immer wieder in die Gegenwart, beschreibt die Besuche bei seiner alten, dann bettlägerigen, schließlich sterbenden Mutter in einem Seniorenheim. Trotz seines Mitgefühls für ihr Leiden fragt er sich, ob sie ahnt, was für eine »Zumutung sie sein konnte«. Die Mutter war ein Leben lang eine »Glücksbesessene«. Kirchhoff vermutet, dass es mit den Schicksalsschlägen zu tun hat: sie war erst vierzehn als der geliebte Vater starb, achtzehn als der Verlobte im Krieg blieb. Als sie dann ihren Mann, Kirchhoffs Vater, kennenlernte, schien sie ihn regelrecht mit ihrer Liebe zu erdrücken. Kirchhoff ist sieben Jahre alt, als die Familie von Hamburg in den Schwarzwald zieht. Es ist nicht leicht für den eher zarten Jungen sich gegen die derben Dorfkinder mit ihrer anderen Sprache zu wehren. Bodo ist zehn, als die Mutter unverhofft verkündet: »Ich schreibe jetzt.« Zuerst schreibt sie Fortsetzungsromane für Illustrierte, dann richtige Romane. »Über großes Liebesglück und etwas Leid, obgleich ihr eigenes Leben eher auf viel Leid und ein bescheidenes Glück zulief.« Das Geld können sie gut gebrauchen, die Firma des Vaters steht am Rand des Ruins. Die Mutter, die bis zum Schluss eine anspruchsvolle, herrische und schwierige Frau blieb, lebte nicht in dieser Welt, »sie lebte neben ihr, und das nicht aus Ignoranz, sondern aus Angst«. In ihren Notizheften liest der Sohn über »das friedliche Glück von Kirchzarten«, während der Vater »innerlich schon nach etwas anderem gestrebt hat, einem Neuanfang, beruflich und überhaupt«.
Als er zehn ist, wird er in ein Internat gesteckt. Diese Jahre im Internat bis zum Abitur erscheinen ihm später, anders als man denken sollte, keineswegs dramatisch. Nur anfangs war er »heimwehkrank«, fühlte sich »verbannt«, doch er passt sich an. Vier Jahre dauerte eine, auch sexuelle, Beziehung zu seinem Chorleiter. Noch heute will er nicht von Missbrauch sprechen, eher von einem beidseitigen Bedürfnis. Der Junge möchte begehrt werden und hat auch Angst, dass der Kantor ihm andere Klassenkameraden vorziehen könnte. Eines Tages ist der Mann verschwunden, angeblich ausgewandert, nach Südamerika.
Kirchhoffs Internatsjahre sind, wie sein gesamtes späteres Leben (und Werk) von Sexualität bestimmt: »Er ist nackt unter dem Hausmantel, auf seinem Bauch herausgelöste Seiten aus der Quick, aus dem Stern, der Revue. Überall lauert der so böse und doch verheißungsvolle Sex.« Als er seine Mutter, unterdessen nach Frankfurt gezogen, besucht, zieht es ihn zu den Nutten in der Kaiserstraße. Ihm kommt es so vor, »als hätte er zwei Körper, einen oberen, der Camus liest, und einen unteren, der ihn bloßstellt«. Kirchhoff verschlingt Bücher und schreibt schon als 16-jähriger Erzählungen. Er ist »isoliert, der Preis des Individuellen«. Er empfindet die »Entdeckung der Sprache als Trost- und als Kampfmittel«. Und so nutzt er sie bis heute, faszinierend.
Als Kirchhof seine zukünftige Frau kennen lernt, die, wie er, ihre Schulzeit in einem Internat verbracht hat, begreift er, dass »zwei Heime, die kein Zuhause waren, unser erstes Band« geworden und geblieben sind. Sein »Roman der frühen Jahre« ist, wie die meisten seiner früheren Romane, wieder ein Versuch, diesmal auf direktem Weg, und nicht an literarische Figuren delegiert, mit dem zurechtzukommen, was ein Leben wesentlich ausmacht, Eros und Sexualität, das heißt auch: Liebe. Anders gesagt: Kirchhoff kann süchtig machen.

Sigrid Lüdke-Haertel
Bodo Kirchhoff: Dämmer und Aufruhr.
Roman der frühen Jahre, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2018, 367 S., 28 €

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