Theater Willy Praml präsentiert Hölderlins große Antigone-Übersetzung

Dafür geb‘ ich Amerika, wird auf einer Werbepostkarte vom Schauspiel Frankfurt der Vater John aus Gerhard Hauptmanns »Die Ratten« zitiert. Der Spruch fällt mir als erstes ein – in jedem Sinne mitgenommen von der Aufführung »Antigone. Bocksgesang von Hölderlin nach Sophokles« in der Naxoshalle. Zwei Stunden dichter Bilderpracht und Sprachgewalt, zwei Stunden hoher Sprechkunst und aufwühlender Emotionen können ziemlich fertig machen, erst recht nach so vielen Wochen Abstinenz. Und riet nicht schon bei der Begrüßung Co-Regisseur Michael Weber dringendst davon ab, Hölderlin gänzlich verstehen zu wollen?
Knapp 100 Leute finden zu den gegebenen Bedingungen im weiten, hohen Fabrikraum, der alten Schleifpapierfabrik Platz. Viel Luft und Platz für jeden. Sonst wurde hier gespielt, doch passen hier fünf Mal so viele Menschen rein, wie es auf der Sitztribüne hätten sein dürfen, die nun zur Bühne geworden ist. Verkehrte Praml-Welt, wenn auch nicht zum allerersten Mal. Versichert werden aber kann schon hier, dass man überall gut versteht. Selbst wenn dem nicht mehr so jungen Auge auf Distanz unklar bleibt, wer da vorne gerade spricht, erfasst man doch problemlos, zu welcher Figur die gehörte Stimme gehört. Was immens wichtig ist. Schließlich sind die meisten Rollen in diesem Stück wechselnd besetzt, wird beispielsweise König Kreon im Laufe des Abends von fast jedem einmal gespielt. Überdies tragen die Mimen in einem Mix aus antikem Vorbild und zeitgenössischer Tröpfchen-Prävention immer mal wieder auf (1,50-Meter?)-Stöcke geschraubte Plastikschildmasken mit Fotoporträts.
Es ist, wie schon erwähnt, Michael Weber, der uns auffordert, ganz entspannt und gelöst seine nicht eben einfache erste (gezeigte) Regiearbeit (zusammen mit dem Prinzipal) zu verfolgen, ja auch mal wegzunappen, wenn der Körper es verlangt. An »Herrn Pramls« statt hat er da geredet, und mit Bedacht nicht, wie man es bei diesem kennt und schätzt, in das Stück eingeführt. Solches nämlich ist integrierter Bestandteil der Tragödie und wird hier vom Meister selbst intoniert: »Als Dichter, Sänger, Musiker und Hölderlin, als Narr also«, so das Programm, steigt der inzwischen 79 Jahre alte Prinzipal auf der mit roten Rinnsalen besudelten steilen Stufenbühne (Bühne: Michael Weber) herab, um im klassischen Sprachrhythmus – auch das ein Genuss – die blutige Geschichte der Labdakiden zu deklamieren: von den Verfehlungen des Laios über das Verhängnis des Ödipus bis hin zum Tod der sich vor den Toren Thebens im Streit um die Herrschaft gegenseitig tötenden Brüder und Ödipus-Söhne Eteokles und Polyneikes. Diesen Prolog haben in ihrer 1989 verfassten Bearbeitung des Hölderlintextes, der hier gefolgt wird, Martin Walser und Edgar Selge an den Beginn gestellt. Und was Willy Praml, »vom Schlag« genesen, daraus macht, ist nachgerade ergreifend.
Wie die vor der Bühne auf einem Rundplateau kammerkonzertartig platzierten Notenständer und Stühle, verweist auch der Geigenbogen in Pramls Hand auf die das Stück begleitende Musik von Franz Schubert, die freilich über Band (Musikalische Einrichtung: Gregor Praml) eingespielt wird. Der einzige Komponist nach Meinung des Theatergründers, der Hölderlins »rapsodisches« Werk adäquat hätte vertonen können, hätte er es gekannt. Die Begleithefte des Theaters sind seit jeher weit mehr als eine Zier.
Auf der stufig steigenden steilen Bühne ahnen wir Körper in weißen Tuchballen eingedeckt: Es sind die Toten, die das Theater für die Dauer der Aufführung wieder zum Leben erweckt, um die Grenzen von Macht und Herrschaft in dem Konflikt zwischen Staatsräson und göttlich fundierten Gesetzen der Familie, den Antigones Verlangen, den als Staatsfeind geächteten Bruder in Würde zu bestatten, auslöst.
Mit dem Erwachen der Toten zu Schuberts Streichquintett in C-Dur erleben wir die Schlacht um Theben noch einmal choral und zugleich eine erste Ensemble-Kostprobe der Sprechkunst. Die Spieler und Spielerinnen sind in Weiß, in Hell und teils metallisch glitzerndes Silber (Kostüme: Paula Kern) gekleidet – es muss nicht bei Hölderlin bleiben, was man nicht versteht. Und tatsächlich ist es fesselnder, einfach dem Schauspiel zu folgen, über den Rigorismus und die Weltfremde der schönen Seele Antigone nachzudenken. Tolle Statements vom kurzen Leben, und der viel längeren Zeit danach, aber nicht eben von dieser Welt. Oder über Kreon: Mein Gott, wie er sich vom ersten Erscheinen (Birgit Heuser) mit der ihm nach dem doppelten Brüdertod zugeschanzten Herrscherbürde quält. Wie wenig souverän der Souverän sich an Prinzipien klammert. Und immer mehr – bis zur späten Einsicht! – in die Enge getrieben wird, von Antigone, von Haimon, Ismene und vor allem dem mächtigen Chor.
Es dürften so um ein Dutzend große Bilder sein, die uns das glänzend eingespielte Ensemble wie eine Performance serviert. Dass das nicht gänzlich ernst bleiben muss, demonstriert in einer köstlichen Burleske Reinhold Behling als hawaihemdener Grabwächter im Dialog mit der Macht. Und wie schräg ist das denn: Der wunderbare Jakob Gail mit weiten gefiederten Schwingen als flügelschlagender krähender Orakel-Geier? Schlichtweg bestechend, wenn Sam Michelsons Antigone die Stufen in den ewigen Tod als Walk of Fame im exzeptionell knappen roten Kostüm wie eine gefallene Hollywood-Diva vor dem Kodak Theatre beschreitet. Lassen wir es dabei im Gefühl, den anderen Unrecht zu tun: Hanna Bröder, Muawia Harb, Birgit Heuser und Anna Staab. Gegen Ende klingen Klaviertöne auf und einen kurzen Moment dachte ich schon an Supertramp. Aber es ist Schuberts Klaviertrio Nr. 100, zu dem Willy Praml eine Passage aus Hölderlins »Hyperion« zitiert. »Nächstens mehr«, schließt er mit diesem. Bitte! Was für ein Abend. Gibt’s nirgendwo sonst.

Winnie Geipert (Foto: © Seweryn Zelazny)

Termine: 2. Oktober, 20 Uhr; 3., 4. Oktober, 18 Uhr
www.theater-willypraml.de

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