Ian McGuire: Nordwasser

Am schrecklichsten

Achtung, in diesem Thriller werden Robben und Wale brutal geschlachtet und gehäutet, zerquetscht ewiges Eis Haut und Seelen. »Nicht für Zartbesaitete«, empfahl der australische Thrillerautor Michael Robotham, eben mit dem britischen Gold Dagger ausgezeichnet, im CulturMag-Jahresrückblick 2016 dieses Buch als eine nervenzerfetzende Lektüre. »Nur wenige Bücher dieses Jahres entwickelten solch eine erzählerische Spannung, bei der ich auf jeder Seite in Furcht war, dass etwas noch Schrecklicheres geschehen könnte.«
Zusammen mit dem Harpunisten Henry Drax gehen wir 1859 in einem vom Niedergang der Walindustrie bereits gezeichneten Hull an Bord der »Volunteer«. Paraffin und Petroleum sind dabei, den Walfischtran zu verdrängen. Schiffseignern, die in ihre Flotten investiert haben, droht der Ruin, nur die Agilsten oder Skrupellosesten werden überleben. Drax ist ein Brutalo, manche in der Mannschaft werden ihn später für den Teufel halten. Innerhalb der ersten Buchseiten hat er einen Shetländer ermordet, der ihm komisch kam, und einen Jungen vergewaltigt und bewusstlos geschlagen. Schon als er an Bord geht, ist klar, dass das alles nicht glücklich enden kann. Brownlee, der Kapitän, hat vor nicht langer Zeit die »Percival« gegen einen Eisberg gesetzt und 18 Männer verloren. Auch der als Schiffsarzt angeheuerte irische Armeechirurg Patrick Summer, während der Belagerung von Delhi verwundet, bringt seine eigenen Dämonen mit. Eine bunt zusammengewürfelte Crew harter Männer, eine gnadenlose See, das ewige Eis, mörderische Konkurrenz und ein riskanter Versicherungsbetrug machen aus dem Schiff ein eigenes, im Eismeer isoliertes Universum. Noch schöner als im englischen Original liegt der Titel des Buches nicht weit von Mordwasser.
Wie eine Begegnung zwischen Joseph Conrad und Cormac McCarthy fand die New York Times Book Review diesen Roman, der 2016 für den Man Booker Prize nominiert war. In der Tat behauptet sich Ian McGuire beeindruckend souverän in einem von Patrick O’Brian, Joseph Conrad, Jack London, Edgar Allan Poe (besonders Arthur Gordon Pym) und Hermann Melville durchpflügten Terrain. Dabei konnte Ian McGuire auf keinem Walfänger anheuern – anders als Hermann Melville damals auf der »Acushnet«, von der dann elf der 26 Mann desertierten. Der Direktor des »Centre for New Writing« der University of Manchester hat exzellent recherchiert, kann extremes Wetter und die Kälte des Nordmeers ebenso gut beschreiben wie das rohe und gewalttätige Handwerk des Walfangs, die Untiefen der Spannungsliteratur meistert er meisterhaft – ohne Pastiche, Ironie oder Postmodernes zu produzieren. Ganz so, als ob man heute immer noch so über die See schreiben könnte wie die Meister. Erstaunlich. Was für ein Buch!

Ian McGuire: Nordwasser (The North Water, 2016). Aus dem Englischen von Joachim Körber. Gebunden, mit Lesebändchen, mareverlag, Hamburg 2018. 302 Seiten, 22 Euro.

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