Viel Zeit zum Verlieben: »303« von Hans Weingartner

Was für ein Film! 145 Minuten sind eine lange Zeit im Kino. Doch hier, in diesem Film, gibt es keine überflüssige Minute. Denn »303« erzählt von zwei jungen Menschen, die sich kennenlernen, und für diesen Prozess nimmt sich der Film seine knapp zweieinhalb Stunden. Das wirkt authentisch, also so, wie es von jeder und jedem heutzutage eingefordert wird, und dennoch ist »303« kein Dokumentarfilm.

Regisseur Weingartner, der mit »Die fetten Jahre sind vorbei«, »Das weiße Rauschen« und »Die Summe meiner einzelnen Teile« bemerkenswerte Kommentare zur allgemeinen Befindlichkeit und ihrer ziemlich verrückten Ausformung im Besonderen gegeben hat, wollte diesen Film schon immer machen, wie er in einem Gespräch festgestellt hat. Er liebe gedankliche Auseinandersetzungen und Theorien über alles. »Ich war Wissenschaftler, bevor ich Filmemacher geworden bin, und ›303‹ ist für mich der ideale Weg, beides miteinander zu verbinden«, sagt er.
Ein Wohnmobil, eben den legendären Mercedes 303, einen Mann und eine Frau, mehr braucht Weingartner nicht. Jan, der Politikstudent, hat gerade die Absage zu einem Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung bekommen, weil er in seinem Bewerbungstext nicht linientreu argumentiert hat. Die Studentin Jule ist soeben durch eine Biochemie-Prüfung gefallen. Sie bricht mit dem Wohnmobil von Berlin auf, um ihren Freund in Portugal zu besuchen. Sie zögert ein wenig, als Jan sie an einer Tankstelle am Stadtrand fragt, ob sie ihn mitnehmen würde.
Nein, Liebe auf den ersten Blick ist es wirklich nicht zwischen beiden. Das und die filmisch unverbrauchten Gesichter von Mala Emde und Anton Spieker unterscheidet »303« wohltuend von vielen Film-Romanzen.
Beide haben die iberische Halbinsel als Ziel, aber erst als sie Köln erreichen, beschließen sie, weiter zusammenzubleiben. Schließlich haben sie sich bis dahin schon eine Menge erzählt und auch schon die erste Krise hinter sich gebracht. Jan hat zu heftig den Selbstmord verdammt, ohne zu wissen, dass Jules Bruder sich getötet hat. Bei Jan ist das Problem sein Vater, der nach Spanien abgehauen ist und ihn jetzt sehen möchte. Das wird später nicht so einfach werden.
Weingartner lässt die beiden wild herumphilosophieren und -politisieren, die Dialoge wirken spontan, als ob sie improvisiert wären. Vieles erkennt man als eigene Meinung wieder, mal bei ihm, mal bei ihr. Vieles ist dem jugendlichen Alter geschuldet.
Zwischendurch gönnt Weingartner seinen Protagonisten (und uns Zuschauern) den Blick auf die sich verändernde Landschaft, Geplänkel am Strand und anderes, nur mit dem Verlieben lassen sich die beiden Zeit. Im Grunde ist es ja wahr: Je länger man einen Menschen kennt, umso mehr müsste man ihn lieben. In der Wirklichkeit verkehrt sich dieser Prozess leider oft in sein Gegenteil.
Auch zeigt sich Weingartner altmodisch, wenn er Jule und Jan nicht ständig mit ihren Smartphones hantieren und eine gedruckte Landkarte statt eines Navigations-Apps verwenden lässt. Ihm ist mit »303« sein ›opus magnum‹ gelungen. Zusammen mit »Im Lauf der Zeit« wird der Film als großes deutsches Roadmovie in die Filmgeschichte eingehen.

Claus Wecker (Foto: © Alamode Film)
303
von Hans Weingartner, D 2018, 145 Min.
mit Mala Emde, Anton Spieker, Arndt Schwering-Sohnrey, Thomas Schmuckert, Hannah Schröder, Sophie Tschannett
Drama
Start: 19.07.2018

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