Tilman Jens zieht die Bilanz seines Lebens, als Journalist, als Sohn, als Mensch

Wenn ihm ein Einfall für eine »gute Geschichte« gekommen war, dann rieb er sich die Hände, lächelte Beifall suchend, und strahlte eine schlichte, ja kindliche Freude aus. Er war Journalist durch und durch. Allerdings: ohne Hemmungen, ohne moralische Skrupel, ohne persönliche Rücksichten. Für eine »gute Geschichte« setzte er viel, manchmal alles aufs Spiel. Deshalb war er ein guter, oft brillanter, aber kein großer Journalist. Er suchte den schnellen Erfolg. Und er konnte ihn genießen. Trotz seiner Eltern, Inge und Walter Jens, die natürlich eine Hypothek waren. Jetzt liegt sein letztes Buch vor, ein Fragment, schonungslos, aufrichtig, ergreifend.

Eigentlich sollte es ein Buch über Diabetes Typ 2 werden. Eine Krankheit, die bei Jens mit Mitte vierzig bereits diagnostiziert wurde und ihn mehr und mehr, bis zu seinem Lebensende mit fünfundsechzig, beeinträchtigt hat. Doch es wurde auch ein Buch über sein Leben. Und über das Recht, sein Leben selbstbestimmt zu beenden.
Das Schicksal seines Vaters stand ihm dabei immer wieder vor Augen. Und, anders gelagert, sein eigenes. Tilman Jens wurde durch den Lockdown endgültig aus der Bahn geworfen. Er war plötzlich gezwungen, mehrere Wochen in einem Hotel in Leipzig zu verbringen. Strickte Einreisebeschränkungen ließen ihn nicht mehr nach Sarajewo zurückkehren, wo er seit 2015 wegen »seiner Frau«, »(meine große Liebe)« lebte. Für Jens ist dieser Lockdown während der Corona-Pandemie besonders hart. Er war regelrecht in Leipzig gestrandet. Keine Kontakte, keine Interviews, keine Filme, also kaum Arbeit, ohne die er doch nicht leben konnte. Zusätzlich zu seinem körperlichen Verfall, der sich dramatisch verschlimmerte, befürchtete er den finanziellen Ruin. In dem kleinen Hotel hat er auf einmal »Zeit zur Selbsteinkehr und zur Auseinandersetzung mit meinem Diabetes«. Das Synonym für »Schwäche und drohendem Siechtum« bedeutet für ihn, sich an keine Verbote und Einschränkungen zu halten. Er will noch immer »aus dem vollen schöpfen und nicht jetzt schon vernünftig und reduziert« leben. Jens beschreibt sein spannendes und extremes Leben, seine vielen Reisen. Beruflich fühlt er sich zu »Grenzgängern« hingezogen, den »kreativen Verweigerern und Sonderlingen, den schrägen Gestalten«. Er macht Filme über den alkoholabhängigen Harald Juhnke, Wolfgang Neuss, »dem heruntergekommenen Drogenwrack, der aussah wie ein Indianer« oder Horst Janssen, dem großartigen Maler und Zeichner. »Er trat ab nach einem prallen und, was die zerstörerische Ausbeutung der eigenen Kräfte angeht, konsequent geführten Leben. Diesem Lebensentwurf kann ich auch postum viel abgewinnen.« Aufmüpfigkeit, Konflikte, Auseinandersetzungen haben sein Leben geprägt. Schon als Schüler hat er sich mit seiner »Widerständigkeit ins eigene Fleisch geschnitten«. Tilman Jens schont sich nicht, er benennt deutlich seine Fehler und Schwächen, seine hässlichen Seiten. »Gebotene Grenzen habe ich nicht oder erst deutlich zu spät respektiert.« So, als er, ganz frisch beim »Stern« als Reporter engagiert, in Uwe Johnsons Haus in London einbricht und persönliche Unterlagen stielt, um die beste Geschichte schreiben zu können. Auch privat durchlebt er etliche Tiefen. Er bricht nicht nur aus seiner ersten Ehe aus und bekennt: »ich log mich durchs Leben«. Jens ist ein sensibler Beobachter, ein großartiger Filmemacher mit viel Einfühlungsvermögen einerseits, aber, wie ihm eine seiner Frauen vorwirft, auch ein Mensch »mit Hornhaut auf der Seele«. Er konnte, auf seine Geschichten fixiert, jegliche Moral ausschalten. Die lange und intensive Freundschaft seines Vaters mit Marcel Reich-Ranicki wurde durch ihn unwiderruflich zerstört. Dabei wirkte Tilman Jens aber immer auch wie ein verschmitzter sympathischer Junge.
Jens hält es für richtig, seine Krankheit öffentlich zu machen. Er hatte auch die Demenz seines Vaters öffentlich gemacht – »in der Hoffnung, dass sich so mancher auf seine Weise in meiner vertrackten Geschichte wiedererkennt«.
Sein Buch ist glänzend geschrieben, aber unvollendet geblieben. Das letzte Kapitel, bis auf den Titel »Endzeitstimmung«, ungeschrieben. Am 29. Juli 2020 nahm er sich in Leipzig das Leben.
Sein Buch endet mit einem Vortrag über die Demenz seines Vaters in der evangelischen Akademie in Tutzing. »Du sollst sterben dürfen«. Also darüber, dass Walter Jens nicht mehr in der Lage war, seinen Jahrzehnte vorher proklamierten Suizid zu begehen.
Das kleine, berührende Buch von Tilman Jens wird abgeschlossen durch die einfühlsamen Erinnerungen seines Freundes Heribert Schwan und seines langjährigen Kameramanns und Cutters M. J. Günther. Es ist in seiner Offenheit und Schonungslosigkeit auch ein faszinierendes Zeugnis eines Lebens geworden, das sich auf keine Formel bringen lässt.

Sigrid Lüdke-Haertel

Tilman Jens: »Die Freiheit zu leben und zu sterben«
Ein Bekenntnis, Ludwig Verlag, München 2021, 192 S., 20 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert