Theaterperipherie setzt sich im Titania mit Veiels »Der Kick« auseinander

Der Potzlower in dir und mir

»Der Stoff ist hart, aber das sind Sie von uns gewohnt. Sie wissen ja, wir gehen immer aufs Ganze.« Mit einer Selbstreferenz, die eher an schlechte Werbung denken lässt, kündigt das Ensemble theaterperipherie vollmundig sein neues Projekt »Der Kick« an, das auf einer  dokumentarischen Bühnen- und Filmarbeit von Andres Veiel und Gesine Schmidt basiert. Deren Thema sind die Umstände der in einem sogenannten »Bordsteinbiss« – real einem Schweinetrog – gipfelnden qualvollen Ermordung des 16-jährigen Sonderschülers Marinus Schöbert im ostdeutschen Potzlow im Jahr 2002, ein weithin bekannt gewordener Fall von neonazistischer Gewalt. Die Autoren recherchieren darin nicht nur den Hergang und die ideologische Aufbereitung der Tat – Marinus muss sich als Jude bekennen, der er nicht war –, sie zeichnen in einer Collage aus 18 Stimmen von Eltern, Freunden, Zeugen und Beamten auch das deprimierende Porträt jenes Schoßes, aus dem das kroch: einer Kommune in der Uckermark, in der die Tat über vier Monate kollektiv vertuscht wurde.
In der Naxoshalle führten Schauspielschüler der Frankfurter Hochschule für darstellende Kunst und Musik »Der Kick« (Regie: Werner Wölbern) Anfang vergangenen Jahres in einer der monologischen Textform folgenden Inszenierung auf. Im Titania steigt das Ensemble mit krachendem Strobo-Gewitter ein. Der Stoff ist hart – die Beats sind es auch. Ohne zugeteilte Rollen bereiten sechs Darsteller die Vorlage mit assoziativen Spielen, Zitaten, Musik und Videos episodisch auf, verschmelzen die Figuren häufig in eindrucksvollem chorischem Stakkato oder überzeichnen sie zur Karikatur. Jede Szene wird mit einem Kiesel eingeleitet, den ein Mitspieler auf den roten länglichen Blechkasten an der Spielrampe knallt und dort liegen lässt. Es ist ein Kasten, der das Schafott, aber auch das Gedenkritual auf jüdischen Friedhöfen symbolisiert, und den man dichte 70 Minuten lang nicht aus den Augen verliert. Und auch nicht aus dem Sinn.
In immer wieder neuen Anläufen versuchen Marcel Andrée, Ole Bechtold, Emrah Erdogru, Silvana Morabito, Lisa Deniz Preugschat und Bahar Sarkohi das Geschehen und seine Akteure zu begreifen. Die sich in die Enge getrieben fühlenden Dörfler etwa stellen sie in einem pulsierenden Körperknäuel dar, aus dem sich eine Rechtfertigung nach der anderen windet. Ein schonungsloses packendes Ringen, das von der mantrahaft wiederholten Frage getrieben wird. »Warum habt ihr euch den Tätern nicht in den Weg gestellt?«   
Weniger glücklich zeigt sich das Regiedebüt von Hannah Schassner und Thorsten Knoll in dem unnötigen Versuch, die Stückwahl zu legitimieren, sprich den Potzlower in dir und mir und speziell in Frankfurt aufzuspüren. Dass ein brandenburgischer Neonazi plötzlich breites Hessisch spricht, hilft da gewiss so wenig weiter wie der in einer Spielerphalanx präsentierte Stresstest mit Judenwitzen. Sehr viel stärker wirkt die dunkeldeutsche Aktualisierung in der ernüchternden Schlusssequenz.

Winnie Geipert (Foto: Seweryn Zelazny)
Termine: 5., 15., 25. November, 19.30 Uhr
www.theaterperipherie.de

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