Städel: Nur noch kurze Zeit »Große Realistik & Große Abstraktion«

Dirty, dirty boulevard: Der erste Blick fällt auf ein vertrautes nächtliches Großstadtmilieu. Ernst Ludwig Kirschners Hochformat »Berliner Straßenszene« aus dem Jahr 1914 führt uns in starkem Kreidestrich die Begegnung zweier Halbweltdamen mit einem Passanten vor Augen. In fahlem Straßenlichter-Gelb der Hintergrund. Kokotten, der zeitgemäße Ausdruck: elegant, groß – auf Augenhöhe – und selbstbewusst. Die Gesichter: hellblau! Gesten und Körpersprache halten Flüchtigkeit wie Bestimmtheit der Situation fest, Prostitution im öffentlichen Raum war seinerzeit Straftatbestand. Zwei Jahre später hat der inzwischen psychisch und physisch angegriffene Künstler seinen lädierten Zustand mit seinen Kokotten-Bildern verglichen: »Hingewischt, und beim nächsten Male weg!«.
Steht im großartigen Katalog, der hier überall zum Nachschlagen ausliegt. Und der besser zuhause nachgelesen werden sollte, sonst kommt man nicht weit. Rechts oder links, zu Ernst Ludwig Kirchner oder im Uhrzeigersinn zu Max Beckmann, stellt sich die Frage, die keine ist. Eigentlich teilen sich die zwei Haus-Meister; das Städel ist mit beiden reichlich eingedeckt; hälftig den Eingangsraum. Rechts an der Wand eine mehrteilige Studie zu Fränzi, dem Kinder-ModelL der Brücke-Maler, das wir vielleicht schon zu oft hier gesehen haben, linkerhand das Porträt des Landsturmmanns Ernst Pflanz vom April 1915, auf dem Beckmann, schon im Kriegsdienst als Sanitäter, mit unruhigem Bleistift die Nähe der Front spüren lässt. Knapp 30 Jahre später, 1944 im besetzten Amsterdam, entstand sein Blatt »Die Weintraube«, das ihn seiner Frau Mathilde auf dem Bock eines über die Grachten steuernden Pferdefuhrwerks zeigt. Auf der Ladefläche eine überdimensionale pralle dunkle Traube, deren Stil wie ein Signalhorn gen Himmel weist, ein biblisches Hoffnungsmotiv.
Wer sich in die Ausstellung »Große Realistik & Große Abstraktion« des Städelmuseums begibt, hat wohl zu allererst, so ihn nicht ein kunsthistorisches Interesse treibt, deren Titel vergessen, der eine These von Wassily Kandinsky aus dem Jahre 1912 über die Zukunft des Kunstschaffens zitiert. »Zeichnungen von Max Beckmann bis Gerhard Richter« kündigt die Unterzeile an. Etwa 100 Blätter von 43 deutschen Künstlern, ausschließlich Männer, aus der Zeitspanne von 1910 bis 1989/90 hat die Kuratorin Jenny Graser ausgewählt, rund 1.800 standen ihr dafür in der Graphischen Sammlung des Hauses zur Wahl.
Während man sich dort im Souterrain bei van Gogh nolens volens auf die Füße tritt und im Weg steht, ist der Kunstgenuss zwei Stockwerke höher nicht nur unbeschwerter, sondern auch intensiver, eröffnet das Genre der Zeichnung doch ohnehin einen sehr viel näheren Blick auf den Prozess des Schaffens. Es ist ein wenig so, als folge man einer privaten Einladung ins Atelier und nicht zur Vernissage in die Galerie. Viel intensiver rückt darum auch der historische und biografische Kontext einer jeden einzelnen Arbeit ins Licht. Die Ausstellung ist zweifellos auch eine Zeitreise in die deutsche Geschichte.
Auf dem Parcours der Überblicksschau werden grob chronologisch Abteilungen mit teils beglückenden Meisterwerken präsentiert: So das als »Farbformereignis« rubrizierte berauschende Aquarell »Vierwaldstätter See« von Emil Nolde aus der Zeit um 1930. Oder das Wiedersehen mit Ernst Wilhelm Nay. Aber auch Erich Heckel, Karl Schmidt-Rotluff, Anselm Kiefer, Georg Baselitz, Gerhard Richter, Jörg Immendorf, die Quadriga-Künstler und nicht wenige Namen, die man zum allersten Mal hört. Viele von ihnen werden im Anschluss – wer weiß, ob nur für Jahre oder für immer – in das Archiv zurückkehren.

Lorenz Gatt (Foto: »Vierwaldstädter See« von Emil Nolde, © Nolde Stiftung)
Bis 16. Februar: Di., Mi., Sa., So., 10–19 Uhr; Do., Fr. 10–21 Uhr
www.staedelmuseum.de

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