Sinclair-Haus in Bad Homburg: Thomas Wredes »Modell Landschaft«

Vogel- und andere Perspektiven

In Eirik Fauskes Kinderstück »Unterm Kindergarten« (im theaterhaus zu sehen) brauchen Groß und Klein eine ganze Weile, bis sie akzeptieren, dass schon der erste Flug des seine neue Freiheit bejubelnden Jungvogels seinem kleinen Leben ein jähes Ende setzt – an einer Fensterscheibe. Vogelschlag wird diese Kollision von Natur und Zivilisation genannt, der laut Wikipedia 250 Millionen Vögel jährlich in Europa zum Opfer fallen.
Der in Münster lebende Fotograf Thomas Wrede setzt die Spuren solcher Aufpralle auf Scheiben und Fenstern als »Abdruck der Natur von sich selbst«, Selbstporträts der Natur also, in großformatige Bilder um. Die Schwarzweiß-Serie »Die Vögel stehen in der Luft und schreien« visualisiert mit aufwendiger Fototechnik diesen Print aus Blut, Sekreten und Federstaub als Konkretion des Moments zwischen Leben und Tod in einer frappierenden Deutlichkeit, sind doch Schnäbel, Gefieder und Kopfformen oft deutlich zu erkennen. Auch wenn sich nur wenige ein solches Bild ins Wohnzimmer hängen würden, entfaltet es einen von seinem Objekt gelösten ästhetischen Reiz.
Besucher dieser Station der ersten umfassenden Werkschau Wredes im Bad Homburger Museum Sinclair-Haus müssen sich damit aber nicht begnügen. Mit portablem Kopfhörer können sie sich zu der von diesem Bilderzyklus inspirierten Komposition »Flugsand« (1998) von Isabel Mundry nachgerade meditativ in ihre Betrachtung versenken. Ins Mark trifft aber auch die hier obligatorische literarische Ergänzung der Exponate mit einer Reflexion Cees Nootebooms aus dem Roman »Rituale«. Eine Pause im ohnehin gastfreundlichen Haus scheint geboten und vonnöten nach dieser Station, zumal es im Café eine  Leseecke mit Informationen und einem Video über den Künstler gibt.
Ebenfalls schwarzweiß und bereits 1991 hat Wrede die nach der dänischen Insel benannte Serie »Samsö« produziert. Als 27-jähriger Kunstakademie-Absolvent hat er dort Berge von durch Wind und Wetter freigespülten Plastikfolien fotografiert, die Bauern vergraben hatten. Dabei muten die teils gebundenen Ballen an, als verbärgen sie Kadaver oder Leichen. Auch hier verleiht die Bearbeitung der eigentlich dokumentarischen Fotografien der Arbeit eine künstlerisch-ästhetische Note, die die Insulaner anscheinend nicht teilten. Im Zuge einer heiß debattierten Ausstellung habe man den Abfall inzwischen beseitigt, weiß der Fotograf.  
Schwarzweiß sind auch die entgleisten Züge in den Gesichtslandschaften von Passagieren einer Achterbahn im Freizeitpark Brühl. »Magic Feelings« (1999) hält mit dem Erleben der Sturzfahrt Enthemmung und Kontrollverlust fest. In den Schreien, die man überwiegend sieht, spiegeln sich Schrecken und pure Lust. Assoziationen über einen möglichen Aufprall bleiben nach dem Gesehenen nicht aus. Wrede zeigt die Gesichter »unterlebensgroß« im Postkartenformat.  
In den dezidierten Landschaftsserien dominiert das hintergründig-ironische Spiel um Perspektive und Wahrnehmung von Wirklichkeit. Was bei dem Bergseepanorama hinter einem Nierentisch noch rätseln lässt, lokalisiert sich bei der skurrilsten aller  »Domestic Landscapes« umso schneller: eine Birkenwald-Fototapete in der Toilette. Wie so mancher privat die Wohnung, so füllt die Industrie den öffentlichen Raum mit Sehnsuchtsmotiven. In »Manhattan Picture Worlds« die Hausfassaden, in »Magic Worlds« die Freizeitparks. Richtig spektakulär sind die bis ins Detail komponierten Werke der Serie »Real Landscapes«, bei denen das Fotografieren den geringsten Teil der Arbeit einnimmt. »After The Flood« (2002) zeigt die zerstreuten Reste eines restlos zerstörten Fischerdorfs, das sofort an die Tsunami-Katastrophe denken lässt. Erst auf den zweiten Blick beginnt die Szene unwirklich zu werden, die Wrede in fünfmonatiger Vorbereitung mit präparierten  Modellhäuschen und Massen von Streichhölzern entworfen hat, um sie dann aber in echt und draußen an einer Pfütze bei passender Witterung abzulichten. Insgesamt 47 Arbeiten des Fotografen sind ausgestellt.     

Winnie Geipert
Bis 5. Juni: Di. 14–20 Uhr, Mi.– Fr. 14–19 Uhr, Sa. + So. 10–18 Uhr
www.altana-kulturstiftung.de

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