Sinclair-Haus Bad Homburg:
Ori Gershts »NaturGewalten«

»Will You Dance for Me«, © Ori Gersht Ein Tanz im Rollstuhl

Von dem israelischen Fotograf und Videokünstler Ori Gersht stand an dieser Stelle schon zu lesen: Sein Video »Pomegranate« war ein Höhepunkt der großartigen Stillleben-Schau »Still bewegt« vor anderthalb Jahren im Sinclair-Haus (Strandgut 11/2013). Es dokumentiert in Megazeitlupe die martialische Zerstörung eines kunstvollen Obstarrangements durch einen kaum hörbaren Schuss und vergegenwärtigt damit eindrucksvoll die Fragilität des Lebens und der Schönheit. Es ist die Wiedergabe der in Israel besonders geläufigen Erfahrung eines jederzeit möglichen Einbruchs von Gewalt in das Leben. Und sieht in High Quality auch noch klasse aus.
Die Idee, diesem Künstler eine eigene Ausstellung zu widmen, geht auf jene Begegnung mit Gershts Arbeiten zurück. Zur Verwunderung des Kurators Johannes Janssen ist es die allererste in Deutschland. Ihr Titel »NaturGewalten« rechtfertigt sich, bevor man noch das erste Werk in Ruhe betrachtet hat, mit einem gewaltigen Krachen. Ein leinwandhoher und -breiter Film zeigt mit einer fixierten Panoramakamera den ohrenbetäubenden Sturz eines gefällten Waldbaumes. Mit dem sich legenden Lärm kehrt die übrigens menschenleere Idylle mit Vogelgezwitscher und Gesumme zurück – ein kurzes Weilchen. Wie, wenn sich unter Tablettenwirkung Kopfschmerzen verziehen, kommt das einem vor – bis zum nächsten Crash. Und Schmerz. Doch was vorderhand als Protest gegen die Zerstörung von Lebensressourcen gelesen werden könnte, meint viel mehr. In dem damals polnischen, heute ukrainischen Moskolovka-Wald, in dem Gersht filmte, suchten 1942 die vor deutschen Soldaten fliehenden jüdischen Bewohner des Ortes Kosov Schutz. Überwiegend vergeblich, darunter Verwandte Gershts.
Es gibt noch mehr dieser rätselhaften Landschaften und Naturansichten mit weit und weiter greifenden Geschichten auf Filmen und Fotografien. In einer windigen Nebellandschaft der Pyrenäen müht sich ein verwildert ausschauender Mann über den Weg, auf dem Walter Benjamin vor den Nazis flüchtete. Beigesellt ist diesem Film eine blassbunte Foto-Collage im Caspar-David-Friedrich-Stil, auf der sich eine Aktentasche entdecken lässt. Es stellt die Tasche vor, die Benjamin zufolge ein wichtiges Manuskript von ihm enthalten haben soll – und nie gefunden worden ist.
Zwei der zehn vorgestellten Arbeiten dieser mit Abstand packendsten aktuellen Ausstellung in der Region passen sich nicht ganz in die thematische Vorgabe des Titels. Auf dem Film »Will You Dance for Me« erzählt die zum Zeitpunkt der Aufnahme ehemalige Tänzerin Yehudit Arnon davon, wie sie sich im Winter 1944 in Auschwitz geweigert habe, zur Weihnachtsfeier der SS-Mannschaft zu tanzen und deshalb barfuß im Schnee stehen musste. Ihr damaliger Schwur, ihr Leben, so es ein Überleben werden sollte, fortan dem Tanz zu widmen, führt sie zu Pina Bausch und zur Gründung der Kibbutz Contemporary Dance Company. Es ist ein 13-minütiger Tanz für uns, den die greise unter Osteoporose leidende Frau im Rollstuhl wippend aufführt, indem sie ihr lebensgesättigtes zerfurchtes altes Gesicht in und aus dem Lichtkegel bewegt, während eine benachbarte Leinwand eine karge Winterlandschaft zeigt. Arnon ist 2013 im Alter von 87 Jahren gestorben.

Lorenz Gatt
Bis 14. Juni 2015: Di. 14–20 Uhr; Mi.–Fr. 14–19 Uhr; Sa., So. 10–19 Uhr
www.altana-kulturstiftung.de

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