Schauspiel Frankfurt: Acht Frauen für »Die Brüder Karamasow«

Ja, was ist denn hier passiert? Der komplette Bühnenboden des Frankfurter Schauspiels ist mit schwarzen Schaumstofflocken übersät. Eingerahmt von dunklen Vorhängen, die im Rund von der hohen Decke wallen. Verbrannte Erde, verbranntes Russland, verbrannte Welt? Laura Linnenbaums heißerwartete Inszenierung von Fjodor Dostojewskis »Die Brüder Karamasow« empfängt uns in leerer Finsternis. Als kurz darauf mit den hängenden Bahnen die letzten Hüllen fallen wird die größte Theaterbühne des Landes nackt zum Alleindarsteller. Was für ein Pfund! Was für ein Jammer, wenn es sie nicht mehr geben sollte!
Heißerwartet war das in der Stückfassung der Regisseurin und Wolfgang Michaleks gezeigte Werk aufgrund der Besetzung aller Rollen mit Frauen. Schließlich geht es ganz wesentlich um Männer und Männliches in Dostojewskis als Vermächtnis gehandeltem letztem Roman, der um einen Vatermord und seine Aufklärung kreisend, die großen Fragen des menschlichen Seins auf dem Tableau der untergehenden patriarchalen Ordnung behandelt. Seine Titelhelden sind Charaktere des Mannestums: der religiöse Aljoscha (Lotte Schubert), der Triebmensch Mitja (Annie Nowak), der Intellektuellen Iwan (Melanie Straub) und als mutmaßlich Vierter im Bruderbunde, der Paria und Lakai Smerdjakow (Elzemarieke de Vos).
Einen Mann gibt es dann dennoch, einen Statisten, der in grauem Unterhemd die Leiche des ermordeten alten Karamasow mimt. Sie ist nicht nur – analog zum Buchbeginn – von Beginn an da, sie bleibt auch – armer Mann – den anderthalb Stunden langen ersten Akt an der Rampe liegen. Das erste Wort aber hat Melanie Straubs Iwan mit Voltaire auf den Lippen: »Wenn es keinen Gott gäbe, so müsste man sie (!) erfinden«. Linnenbaum stellt die sich durch den 1.200 Seiten-Wälzer ziehende Theodizee-Diskussion als Prolog in den Raum und beendet diesen mit »Lacrimosa« aus Mozarts Requiem als Abgesang auf den toten Karamasow einfach spektakulär.
Dann aber geht es los, auf die Rückwand wird der Schriftzug Buch 1 projiziert und auf der Bühne breiten die unison mit gestreiften Trägerhosen ausstaffierten Spielerinnen ihre Geschichten aus: das Verhältnis der Brüder zueinander, ihre Beziehung zum Vater, zu Gott und der Welt und zu den stark gespielten Frauen Katja, Gruschenka (Katharina Linder) und Lisa (Tanja Merlin). Aber wir erleben auch Aljoscha im Gespräch mit dem väterlichen Priester Starez Sossima (Christina Geiße) und den mit Video umgesetzten Traumdialog von Iwan mit Sarah Grunerts bizarrem Teufel. Wir erfahren vieles aus dem Roman, aber gewiss nicht dessen Geschichte. Eher sind es Fundstücke aus dessen tiefem Fundus mit Monologen und Dialogen, bei denen es immer wieder um den Sinn des Lebens, den Halt in der Welt und um das Leiden der Menschen geht, aber auch um Geld, Leidenschaft und Liebe im engen und im weiten Sinn. Geschenkt wird dem Publikum nichts. Wer den Roman kennt, wird vieles vermissen, nicht nur den Großinquisitor. Wer nicht, braucht jede Aufmerksamkeit, die Figuren auseinanderzuhalten (was nach der Pause durchaus Lücken in die Zuschauerreihen reißt).
Laura Linnenbaum hat mir ihrer Besetzungsidee keine weibliche Deutung Dostojewskis gesucht und auch keine Schwestern Karamsow iim Sinn, sondern folgt ganz dem Autor.
Annie Nowak gibt ihren Mitja als testosterongesteuerten Säufer und klingt, wenn sie zum »Bruder« spricht, als stünde sie am Hermannplatz in Neukölln. Lotte Schuberts wunderbar empfindsamer Aljoscha ist androgyn, Melanie Straubs Wanja ungreifbar entrückt. Spürbar wird Linnenbaums Zugriff in den flirrenden Auftritten von Sarah Grunerts Teufel und in den romanfremden Setzungen, wie den Walpurgisnacht-haften Tanz des Ensembles zu Katharina Linders »King«-Performance. Dass die Frauen nach der Pause mit übergezogenen Sixpack-Torsi erscheinen, um sich derer wenig später furienhaft zu entledigen, ist vielleicht sowas wie eine Manifestation.
Ohnehin geht nach der Pause alles schnell, klärt sich der Mord auf (Smerdjakoff war’s) und wird in seltener Bedachtheit die schöne Frage gestellt, worin die allseit gebotene Liebe zum Vater denn bitte gründen sollte. Dann aber der Epilog mit einem ins Publikum schreitenden Starez und seinem Appell nach Geschwisterlichkeit. Großer Applaus im Haus und das Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben.

Winnie Geipert / Fotos: © Thomas Aurin
Termine:
6., 24. Juni; 19.30 Uhr;
16. Juni, 16 Uhr
www.schauspielfrankfurt.de

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