Rimini Protokoll widmet dem Tourette-Syndrom »Chinchilla Arschloch, waswas«

28 Szenen, 3 Akteure, 2 Ordnungen. Alles ist durchdacht, aber nichts vorhersehbar. Für die Zuschauer so wenig wie für die Darsteller. Benjamin Jürgens ist einer der drei, und das, obwohl ihm Theater eigentlich »zu eng« sei. Zu viele Regeln, zu viele Konventionen. Eine absolute Stresssituation für ihn, da er an der Nervenkrankheit Tourette leidet. Sie äußert sich in unwillkürlichen Bewegungen und Lautäußerungen, sogenannten Tics. So hören die Zuschauer Benjamin über die Lautsprecher schnalzen, pfeifen, maunzen und ploppen, noch bevor sie ihre Plätze eingenommen haben.
Helgard Haug vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll hat mit »Chinchilla Arschloch, waswas. Nachrichten aus dem Zwischenhirn« ein Stück entwickelt, das Tourette-Patienten und ihren Leiden eine Bühne geben und zeigen will, wie man sich als Außenstehender auf sie einlässt, ohne dass das Ganze einer »Freakshow« gleicht und Voyeurismus entfacht. Ein gewagtes Experiment, das im Rahmen einer Kooperation von Schauspiel Frankfurt und Mousonturm präsentiert wird. Doch eines, das gelingt. Was vor allem an der herrlichen Selbstironie der drei »Patienten« liegt: Mediengestalter Christian Hempel, Musiker und Altenpfleger Benjamin Jürgens und Hessischer Landtagsabgeordnete Bijan Kaffenberger. Benjamin und Christian haben sich das Spiel »Wer zuerst tict, hat verloren« ausgedacht und versuchen, so lange es geht, nicht ihren Zuckungen oder Verbalattacken nachzugeben – wobei sie nicht nur zur Erheiterung des Publikums beitragen, sondern ihm gleichzeitig einen Spiegel vorhalten wollen. In einer anderen Szene greift Benjamin nach einer Flasche und kommentiert: »Hilfe, Tourette mit Wasserflasche, die erste Reihe duckt sich schon«. In einer weiteren wird das Scheinwerferlicht wahllos auf einzelne Zuschauer gerichtet und verharrt dort sekundenlang. Wer verhält sich nun »normal«, wer entspricht nun den Erwartungen? Angelehnt an Peter Handkes »Publikumsbeschimpfung« werden die Perspektiven zum Teil gedreht, die bestehende Ordnung von Darsteller und Publikum auf den Kopf gestellt.
Die insgesamt 28 Szenen sind eine Mischung aus autobiographischen Erzählungen, Spielen und Liedern, wobei die drei Männer jederzeit die Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen, falls die Reize sie überfordern. Unordnung, Lautstärke und Lichteffekte sind für sie Trigger und fördern das Symptom. Jeder Abend wird daher zur Uraufführung, da man nicht weiß, wie die drei reagieren und ob sie die Dauer der Darbietung durchhalten werden. Um ihnen die Teilnahme zu erleichtern, durften sie Bedingungen stellen: sei es Cannabis (Sebastian), das Rednerpult aus dem Hessischen Landtag (Benjamin) oder ein mitgereister Freund (Christian). Auch Musik verschafft ihnen Linderung und gebietet dem »Kaspar im Kopf« Einhalt. Die Komponistin Barbara Morgenstern leitet und begleitet wunderbar und souverän Spieler wie Publikum musikalisch durch den Abend und hat jedem Akteur ein persönliches Lied geschrieben. An ihrem Klavier sitzt sie auf einem weißen Podest, einem von dreien, die an Eisschollen erinnern und symbolhaft für die individuellen Schicksale der Männer stehen (Bühne: Mascha Mazur). Zunächst lose stehend, werden sie sinnbildlich im Verlauf des Abends zur Einheit zusammengeschoben.

Verena Rumpf (Foto: © Robert Schittko)
Termine im Bockenheimer Depot: 5., 6., 7., 10., 11. und 12. Mai, jeweils 20 Uhr
www.schauspielfrankfurt.de

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