Richard Russos großer Roman über die kleinen Irrtümer im Leben

Richard Russo zählt zu den renommiertesten amerikanischen Schriftstellern der Gegenwart. Er erhielt schon 2002 den Pulitzer-Preis für »Diese gottverdammten Träume«. Seit 2010 erscheinen seine Bücher, Romane, Erzählungen im DuMont Verlag, aber richtig durchgesetzt hat er sich bei uns – noch – nicht. Vielleicht gelingt es ihm jetzt mit »Jenseits der Erwartungen«.

 

Drei Freunde, inzwischen im Rentenalter angekommen, treffen sich für ein Wochenende auf der Insel Martha’s Vineyard an der Ostküste der USA. Sie haben sich vor mehr als vierzig Jahren in einem kleinen privaten College in Connecticut kennen gelernt. Sie kamen aus ganz unterschiedlichen Familien. Lincoln, Einzelkind, dem das Ferienhaus in dem sie sich treffen, gehört, hatte unter seinem Vater, einem Tyrannen und Wichtigtuer, immer zu leiden. Der Vater war unnachgiebig und konnte keine Niederlage ertragen. Seine Mutter sagte einmal zu Lincoln: »Du hast die Wahl: Entweder machst du es wie er will oder du wünschst dir hinterher, du hättest es so getan.« Lincoln, der an der Westküste lebt, ist ein erfolgreicher Immobilienmakler, ziemlich glücklich verheiratet und hat sechs erwachsene Kinder. Teddy, Lektor und Kleinverleger aus dem Norden des Staates New York, ist Einzelkind von Lehrern, die nie Zeit für ihn hatten und sich nur mit sich oder ihren Schülern beschäftigten. Er lebt alleine, leidet unter Migräne, Panikattacken und hat Zukunftsängste. Micky, ein Zwei-Meter-Mann, der, wenn »urplötzlich die Pferde mit ihm durch gingen«, auch mal zuschlagen konnte, wohnt in der Nähe, auf Cape Cod. Er ist leidenschaftlicher Musiker, Gitarrenspieler und Gründer einer Band. Er wuchs mit sieben älteren Schwestern auf, und hat sich bis heute »ein unverwüstliches Selbstvertrauen bewahrt«. Während des Vietnam-Kriegs hatte er sich nach Kanada abgesetzt und kam erst nach Gerald Fords Amnestie wieder zurück.

Zu den drei unzertrennlichen Freunden im College gehörte noch ein junge Frau, Jacy. Sie wurde von den drei Jungens geliebt, verehrt, hofiert. Sie war attraktiv, witzig, unangepasst, etwas Besonderes und »hing gerne mit den drei Musketieren ab«. Sie verteilte ihre Zuneigung relativ gleichmäßig, doch die Drei lagen trotzdem ständig auf der Lauer, wen sie im Moment bevorzugte. Für Jacy war es ein Spiel, sie liebte die Macht, die sie über diese Jungs hatte. Kurz vor dem Ende der College-Zeit verbringen sie alle zusammen ein letztes gemeinsames Wochenende in dem Ferienhaus. An dem Morgen, an dem sie wieder ins College zurückfahren wollen, liegt ein Zettel von Jacy auf dem Küchentisch: »Einen Abschied hätte ich nicht ertragen.« Sie hatte sich heimlich davongemacht – und blieb für immer verschollen. Die Freunde aber bleiben in einem losen Kontakt. Manchmal sprechen sie sich über Jahre nicht. Als Lincoln nach vierundvierzig Jahren ein Treffen in dem Haus auf Cape Cod arrangiert, redet er sich ein, er wolle danach das Ferienhaus verkaufen. In Wahrheit ging es »um etwas anderes«. Er hatte noch eine »Leerstelle« in seinem Leben zu füllen. Er will nämlich wissen, was mit Jacy passiert ist, wo und ob sie überhaupt noch lebt. Damals waren einige Personen in die Geschichte verwickelt. Bei ihrem Treffen stellt sich jetzt heraus, dass jeder der drei alten Herren »noch etwas zu Ende zu bringen hat«, obwohl zumindest Lincoln dann meint, dass er »die Wahrheit, hinter der er her war«, wohl besser nie herausgefunden hätte.

Russo hat ein psychologisches Meisterstück geschrieben. Die jungen Studenten mussten sich aber auch den politischen Herausforderungen stellen, vor allem dem Krieg in Vietnam. Zeitgeschichte und Liebesdrama durchdringen sich. Auch wenn es auf den letzten achtzig Seiten etwas arg dramatisch zugeht, Schicksalsschläge und ungeheuerliche Ereignisse häufen sich. Trotzdem bleibt es spannend und gut geschrieben ist das Buch auch.

Sigrid Lüdke-Haertel

Richard Russo: »Jenseits der Erwartungen«.

Aus dem Englischen von Monika Köpfer.

DuMont Verlag, Köln 2020, 432 S., 22 €, ISBN: 978-3-8321-8115-4, Erscheinung: 19.5.2020

 

 

 

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