Richard Russo erzählt vom alltäglichen Leben in der amerikanischen Provinz

Den kleinen Ort Bath, Upstate New York, gibt es wirklich, und dass es im Norden von Bath so etwas gibt, was man North Bath nennen kann, ist mehr als wahrscheinlich, aber nur deshalb wirklich wichtig, weil Richard Russo, durch seine Bücher als legitimer Nachfolger von John Updike ausgewiesen, eine solche Umgebung braucht, um das spezifisch Amerikanische der amerikanischen Provinz im Nordosten der USA entsprechend ins Licht zu rücken. Er schreibt von den Leuten, die sich ihr Leben lang abstrampeln müssen, um nicht vollends sozial abzurutschen. »Von guten Eltern« ist der letzte Band einer Trilogie, in der Russo sich mit dem Erbe beschäftigt, das wir, gewollt oder ungewollt, mit uns herumschleppen. Und hier kommt, ganz undramatisch, aber bezeichnend, noch eine Leiche dazu.

Drei Tage im Februar 2010. Im Zentrum steht eine recht große Familie um Donald »Sully« Sullivan, der bereits vor zehn Jahren starb, aber immer noch eine große Rolle spielt. Es geht aber auch um einen, keineswegs überwundenen Rassismus, der jederzeit, bei dem kleinsten Anlass, wieder aufbrechen kann. Wirtschaftlich geht es bergab. Die arbeitende Bevölkerung von North Bath leidet mächtig unter der Rezession. Sully hatte früh schon seine Frau verlassen und eine Geliebte, die aber nie ihren Mann verließ. Peter, Sullys Sohn, wuchs praktisch ohne Vater auf. Bei Peter, inzwischen Professor an einem College, wiederholte sich das, was ihm sein Vater angetan hatte. Auch er verließ seine Frau früh, von den drei Söhnen blieb der Älteste bei ihm, die beiden anderen wuchsen in äußerst ärmlichen Verhältnissen auf, ohne je Kontakt zu ihm zu haben. William ist unkompliziert, studiert und ist erfolgreich, Thomas, der mittlere, ist schwierig, Schulversager, wird sogar straffällig und wirbelt, als er plötzlich auftaucht, das Leben seines Vaters ganz schön durcheinander.
Die Figuren Russos leben in einem krisengeschüttelten Land, meist kommen sie aus der schlecht bezahlten Arbeiterklasse. Ehepaare trennen sich oft früh. Die Männer schlagen noch häufig ihre Frauen. Es ist die Gegend, in der Trump seine Wähler findet.
Russo zeigt, wie seine Leute ein scheinbar normales Leben führen. Er zeigt aber auch, wo und wie es unter der Oberfläche dampft und brodelt, sodass es jederzeit zu Eruptionen kommen kann – und auch kommt.
Ein funktionierendes Elternhaus kann den Kindern Halt, Selbstbewusstsein und Stärke fürs Leben geben. Wenn es daran fehlt, sind die Kinder den späteren Problemen ziemlich schutzlos ausgeliefert.
North Bath liegt zwar ziemlich hoch im Norden der USA. Es gibt zwar nicht viele Schwarze, aber immer noch Rassenprobleme. Der weiße Polizist Douglas Raymer gibt seinen Chefposten auf und die schwarze Charice Bond, die kurzzeitig seine Geliebte war, übernimmt seine Stelle. Nur hatte sich der weiße Polizist Delgado selbst Hoffnung auf diesen Job gemacht. Er reagiert mit Wut, Empörung, Eifersucht, die ungehemmt aus ihm herausbrechen. Seine Aggressivität kann jeden treffen. Ein zufälliges Opfer ist Thomas, ein Sohn von Peter Sullivan, den er krankenhausreif schlägt. In dem kleinen Ort kennt nicht nur jeder jeden, man ist auch auf die eine oder andere Weise aufeinander angewiesen, miteinander verbunden, verwandt, liiert, befreundet oder auch verfeindet. Der Alltag hier ist oft geprägt durch Hass und Brutalität. Eben Alltag in den USA. Kleinstädtisches Leben. Natürlich auch immer wieder mit kleinen Lichtblicken.
Russo steht sichtbar in der Tradition von John Updike, der solches Leben über Jahrzehnte getreu aufgezeichnet hat. Auch der Aberwitz, zu dem es häufig kommt, wird nicht ausgespart.
Da explodiert schon einmal ein Auto. Die Leiche, oben angekündigt, wird eher zufällig in einem verlassenen Hotel gefunden. Niemand hatte den Toten vermisst. Und unser alter Sully schafft es sogar noch aus dem Grab heraus, seine Losung zu verbreiten. Er hatte zwar viel in seinem Leben falsch gemacht, aber doch irgendwie immer noch die Kurve bekommen. Der Rat, den er seinen Nachkommen hinterlassen hat, drückt aus, was aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten heute geworden ist.
»Mach irgendwas, wenn das nicht funktioniert, mach was anderes … Du hast schlechte Optionen? Dann entscheide dich für die am wenigsten schlechte und lege los.«
Die einstige Vorgabe »vom Tellerwäscher zum Millionär« lautet bei Russos Leuten: abwarten, durchwurschteln! Denn: die Hoffnung stirbt zuletzt.
Wer etwas von den Lebensbedingungen des heutigen Amerika wissen will, der sollte John Russo lesen.

Sigrid Lüdke-Haertel / Foto: © Elena Seibert
Richard Russo: »Von guten Eltern«, Roman, aus dem Englischen von Monika Köpfer, DuMont Verlag, Köln 2024, 576 S., 28 €

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