Opelvillen Rüsselsheim zeigen Niki de Saint Phalles Theaterleidenschaften

Küsst du eine Andere?

Dem Regisseur und Filmemacher Rainer (von) Diez, der heute und eigentlich Rainer Prinz von Hessen heißt, gebührt das größte Verdienst der Ausstellung der Rüsselsheimer Opel-Villen zu Niki de Saint Phalle. Als Beate Kemfert, der Leiterin des Kunsthauses der Opelstadt, sich auf die Suche nach einer weiblichen Antwort auf die legendäre Henry-Moore-Schau der Villen macht, was bald zehn Jahre her ist, und ihr dazu die Schöpferin der prallen Nanas einfiel, da wurde von Hessen, enger Freund der 2002 mit 72 Jahren verstorbenen französisch-schweizerischen Künstlerin, schon bald ihr erster Ansprechpartner. Er eröffnete ihr den Zugang zu einer weithin vergessenen oder übersehenen Thematik des Schaffens de Saint Phalle: ihrer nicht sehr langen, aber doch passionierten Beschäftigung mit dem Theater. Und er bewahrte Kemfert davor, die Opelvillen zum Austragungsort eines bloßen Nana-Me-Toos mit ein paar ihrer sinnlichen Frauenskulpturen aus Gips oder Polyester zu machen, wie es das schon reichlich gab.
Für Rainer Prinz von Hessen gab vor nun exakt 50 Jahren das Bild einer riesigen begehbaren Vulva das Initial, den Kontakt mit Niki de Saint Phalle zu suchen. Ihre provokative Arbeit fungierte als Eingang zu dem mit Café, Shop, Kino und Aquarium ausgestatteten Inneren einer rücklings mit gespreizten Schenkeln platzierten Frauenskulptur von knapp 30 Metern Länge, neun Metern Breite und sechs Metern Höhe, die in Stockholm Besucher in Massen anlockte. Der Regisseur sah in der begehbaren Nana das Ideal eines Bühnenbildes für seine geplante Inszenierung der Aristophanes-Komödie »Lysistrata« am Staatstheater Kassel und fand de Saint Phalle, die bereits in Pariser Off-Theatern erste Bühnenversuche und sogar eigene Auftritte hatte, hoch interessiert. Das Stück handelt schließlich von griechischen und spartanischen Frauen, die ihre Männer durch Sexverweigerung dazu bringen, vom Krieg abzulassen.
Die in Alltagsdeutsch präsentierte Aufführung ging nicht ohne Aufregungen von politischer Seite über die Bühne, welche das Kasseler Publikum wie ehedem das in Schweden zwischen gespreizten Beinen durch eine weit dieses Mal  pinkfarbene Vagina betrat. Auch die knallbunten Kostüme der Inszenierung entwarf Niki de Saint Phalle, die alle primären und sekundären Geschlechtsregionen der Darsteller mit eindrucksvoll bemalten Schaumstoffphalli respektive Herzen oder Blumen schmückte. Dass sich die Künstlerin überdies noch mit einem ordinären Pseudonym benenne, galt Prinz von Hessen zufolge einem mit dem französischen Adel nicht ganz so vertrauten Stadtvorderen als Gipfel der Provokation.
Beim Publikum wie auch der Presse kam dieses spartenübergreifende neue Theater so phantastisch an, dass das Duo Diez /de Saint Phalle für die Documenta 1968 sogar mit einem Stück der Künstlerin selbst beauftragt wurde. Die sehr persönliche, über elf fiktive Stationen ihres Lebens (etwa den Mord an den Eltern, die Hochzeit mit sich selbst) führende Arbeit »Ich« (Moi), von der die Ausstellung Modelle, Kostüme, Entwürfe und sogar Fernsehaufnahmen zeigt, setzte sich aber nicht durch.  
Viel Raum nehmen auf der mit mehr als 100 Exponaten aufwartenden Schau die Siebdrucke und die Themenreliefs der Künstlerin ein, auf denen Niki de Saint Phalle mit ihren immer wiederkehrenden Symbolen fast gedichtartig persönliche Fragen rund um ihre Beziehung abhandelt. Eines der anmutigsten davon stellt die Frage »My love, what are you doing?« und gibt dazu via Mund, Blume, Vogel und Puppe und mit leichter Hand dahin geworfenen Porträts mögliche Antworten. »Are you thinking of me?«,  »Are you smoking pot?«, »Are you dancing to the latest Beatles record?«,  »Are you kissing someone new?« und manches mehr will sie wissen. Zum Verlieben schön ist das.

Lorenz Gatt
Bis 12. März: Di, Do.. 10–21 Uhr Mi., Fr.–So. 10–18 Uhr
www.opelvillen.de

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