Laura Spinney: 1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte

War ganz aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht

(AM) Kafka infizierte sich damit am 14.10.1918 in Prag – und überlebte, auch Ezra Pound hatte Glück. Guillaume Apollinaire starb daran. Donald Trump wäre ohne sie nicht der, den wir nun ertragen müssen. Großvater Friedrich erlag mit 49 der „Spanischen Grippe“, sein Sohn Fred erbte jung und begründete so ein Immobilienimperium. Das Leben eines fast jeden heutigen Erdenbewohners ist von dieser Pandemie beeinflusst (zwei Brüder meiner Großmutter zum Beispiel starben), unser kollektives Gedächtnis aber weiß so gut wie nichts mehr davon. Schon gar nicht vom Ausmaß.

1918, das ist für uns das Jahr, in dem der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Es war aber auch das Jahr mit dem größten Massaker der Menschheitsgeschichte. Die Spanische Grippe infizierte jeden dritten Erdling: 500 Millionen Menschen. In drei Wellen schwappte sie um die Welt. Zwischen dem ersten gemeldeten Krankheitsfall am 4. März 1918 und dem letzten zwei Jahre später tötete der Grippevirus 50 bis 100 Millionen Menschen, also 2,5 bis 5 Prozent der Weltbevölkerung. Das stellt die Toten des Ersten (17 Mio) und des Zweiten Weltkriegs (60 Mio) zusammen deutlich in den Schatten. Die USA verloren mehr Soldaten an die Grippe als auf den Schlachtfeldern, an der Westfront infizierten sich drei Viertel der französischen Truppen und 900.000 deutsche Soldaten.

Gut 80.000 Bücher gibt es über WW I, ganze 400 bisher nur über die weltumspannende Fieberepidemie. Ein mehr als seltsamer kollektiver Gedächtnisverlust, dem die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney mit 1918. Die Welt im Fieber mit einer Vielfalt von Instrumenten zu Leibe rückt. Ihr 2018 erschienenes Buch ist ein Glücksfall: klug und anschaulich, weiblicher Blick, interdisziplinär, weltoffen, abgeklärt, sinnlich und rasend spannend. Eine weltumspannende Detektivgeschichte. (Wie überhaupt dieser Stoff ein gewaltiges Feld für Kriminalliteratur wäre.)

Linney hat die politischen und kulturellen Verwerfungen mit im Blick: den gesellschaftlichen Aufstieg von Egoismus & Kaltherzigkeit – Mitleid konnte schließlich tödlich sein – ebenso wie die neue Liebe zum Frischluftsport und die geradezu obsessive Beschäftigung der Künstler des 20. Jahrhunderts mit den vielfältigen Arten, auf die der menschliche Körper versagen kann. Möglicherweise, das müsste eine weitere Tiefenbohrung prüfen, hat unsere kollektive, Einschaltquoten und Bestseller gehärtete, unleugbare Krimilust an Tod & nur temporärem Mitleid ja hier eine ihrer Wurzeln. Linneys letztes Kapitel geht nicht umsonst übers Erinnern. Philipp Bloom ist beizupflichten: Tatsächlich ein historisches Werk, dem es gelingt, eine Zeit, über die schon alles gesagt schien, neu zu beleuchten.

Alf Maier

Laura Spinney: 1918. Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte (Pale Rider. The Spanish Flu of 1918 and How it Changed the World, 2017). Aus dem Englischen von Sabine Hübner. Carl Hanser Verlag, München 2018. 378 Seiten, 26 Euro. 

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