Landungsbrücken: Orwells »1984« mitreißend inszeniert

In Zeiten von Big Data, in denen der Mensch sich durch Apps, Social Media und andere Algorithmen einer permanenten Kontrolle ausgesetzt sieht, während gleichzeitig immer stärkere Zweifel am Wahrheitsgehalt von Nachrichten aufkommen, scheint es nur passend, dass Sarah Kortmann in den Landungsbrücken George Orwells »1984« auf die Bühne bringt. Siebzig Jahre nach dem Erscheinen wirkt die Dystopie immer noch aktuell.
Gemäß dem Slogan »Big Brother is watching you« filmen die Darsteller zum Teil mit einer Handkamera das Geschehen sowie das Publikum, das somit in das Stück integriert wird. So gleich zu Beginn: Die vier Akteure bauen sich vor den Zuschauern auf, reden manche sogar direkt an und konfrontieren sie mit den Parolen »Krieg ist Frieden«, »Freiheit ist Sklaverei«, »Unwissenheit ist Stärke«, mit denen sich die Staatspartei ihre Anhänger untertan macht. Die Umkehrung der Werte und eine permanente Kontrolle sollen Widerstand unmöglich machen.
Winston aber, der im Ministerium für Wahrheit die Vergangenheit der Gegenwart anpassen muss, kann sich immer weniger mit der allumfassenden Herrschaft der Partei identifizieren. Einem Tagebuch vertraut er seine Gedanken an und begibt sich damit in größte Gefahr, umso mehr, als er mit Julia, einem anderen Parteimitglied, eine heimliche Affäre beginnt, und beide sich einer Widerstandsbewegung anschließen wollen. Doch ihr Traum von einer besseren Welt scheitert, sie werden durch Folter und Gehirnwäsche endgültig zu Marionetten des Systems.
Das gesamte Stück durchzieht eine düstere Atmosphäre, das Bühnenbild (Prisca Ludwig) ist äußerst karg gehalten: Von der Decke herabhängende Glühlampen, zwei Paravents aus Draht und zwei Pulte und Stühle sind die einzigen Requisiten. Der Tagesablauf der Parteimitglieder ist streng gegliedert, insgesamt fünfmal ertönt ein Alarmzeichen: Dreimal müssen sie zum Sport, zweimal zum »Zwei-Minuten-Hass«-Ritual.
Die variierende Wiederholung von Elementen steht im Zentrum der Aufführung, ohne dass sie dadurch langweilig wird. Im Gegenteil, das Stilmittel sorgt für die großartigsten Momente und lässt Raum für Satire: Zu Technobeat absolvieren die Akteure in exzentrischer Kleidung ihr tägliches Training (Choreografie Katharina Wiedenhofer), bevor sie ein paar Minuten später dem verordneten Hass Ausdruck verleihen müssen. Als Feindbilder fungieren auch aktuelle Projektionen wie Heidi Klum und Conchita Wurst, die von ihnen auf (erschreckend) überzeugende Weise lautstark beleidigt werden, so dass man glauben könnte, das ganze Publikum falle in die Beschimpfungen mit ein.
Die grandiose schauspielerische Leistung trägt zum Gelingen wesentlich bei: Ulrike Fischer überzeugt als gnadenloser Funktionär O’Brien, Daniela Fonda als rebellisches Parteimitglied Julia, Sven Marko Schmidt als vom System gebrochener Mann und Jochen Döring verkörpert glänzend seine Doppelrolle als Folterknecht und höriges Parteimitglied.
Die knapp eineinviertelstündige Aufführung konzentriert sich auf die Botschaft Orwells. Die ist zwar bekannt, aber doch geeignet, der Gegenwart die Augen zu öffnen.

Verena Rumpft (Foto: © Niko Neuwirth)
7. Oktober 2018, 20 Uhr
www.landungsbruecken.org

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