Jeremy Reed: The Nice

Dieser Roman ist nicht nur Kriminalroman, sondern auch breitflächige kulturelle Ermittlung. Das London der Sixties ist hier ein solch praller Stoff, dass es für den ganzen Sommer reicht. Vernon Subutex, der Anti-Held aus den gleichnamigen Romanen von Virginie Despentes (2015 ff.), musste seinen Plattenladen »Revolver Records« schließen, weil Musik keine zusammenhängende Kultur mehr produziert, weil die Szenen und Subkulturen sich in privater Vereinzelung verlieren und man »die Erbärmlichkeit einstigen Glanzes« hasst. Das Beatles-Album »Revolver« gab schon 2010 in Jennifer Egans Episoden-Roman »Der größte Teil der Welt« einem Plattenladen den Namen, der ebenfalls bessere Tage kannte. »Is This the End?«, fragte unlängst Georg Seeßlen in seiner Essaysammlung zur Krise der Musikindustrie.
Ist es nicht, wenn man Jeremy Reed heißt und solch wahnwitzige Bücher schreiben kann wie »The Nice«. Dieser immens produktive Schriftsteller, fast 30 Gedichtbände, mehr als ein Dutzend Romane, zahllose Essays zu Musik und Literatur, Übersetzungen von Cocteau, Montale und Bogary, auf der Bühne als Ginger Light mit »poetry readings« zwischen spoken word, Musik, Sound Design und Song, legt einen Erzählduktus vor, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt.
»The Nice« ist eine Zeitmaschine, ein Popkultur-Revival der Sonderklasse, oszillierend zwischen den Farben der Sixties – oh, die gab es, Jeremy Reed hat die Ausdruckskraft dafür, »manche Leute sahen aus, als trügen sie die Droge ihrer Wahl« – und einem dystopischen, von Terroranschlägen erschütterten London der Zukunft. Der Journalist Paul arbeitet an einer Biografie des Modedesigners John Stephen, des Kings der Carnaby Street, der den Mod-Stil erfand (und über den Reed ein Buch geschrieben hat), er trifft auf einen Mod namens The Face, der mit seiner Vespa zwischen gepanzerten Limousinen und marodierenden Hoodie Gangs kurvt. Kleidung, Sprache, Sex, Queerness, Musik und Kultur der Sechziger, vor allem die der aus dem Englischen von »Modernist« abgeleitet Mods, quellen förmlich aus dem blendend geschriebenen Buch. Man könnte passagenweise zitieren, muss sich vor der überaus flüssigen Übersetzung von Pociao verbeugen. Die Stones selbst, die das Buch mit einem fulminant geschilderten Konzert eröffnen, irrlichtern als Stadionsaurier wie Zeitreisende durch dieses jedes Genre sprengende Buch. Wer London in den Sixties kannte: Hier ist die Droge dafür.

Alf Mayer
Jeremy Reed: The Nice (Here Comes the Nice, 2011). Übersetzung aus dem Englischen von Pociao. Bilger Verlag, Zürich 2018. 320 Seiten, gebunden mit Lesebändchen, 24,80 Euro.

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