Im Staatstheater Mainz bleibt »Der zerbrochne Krug« als Stück heil

Die Zeiten, in denen Heinrich von Kleists »Der zerbrochene Krug« vornehmlich als Quelle der Heiterkeit inszeniert wurde, sind zumindest an den Stadttheatern gelaufen. Im Zentrum steht heute nicht mehr die überbordende Phantasterei des sich um Kopf und Kragen redenden Dorfrichters Adam, sondern dessen Machtmissbrauch durch sexualisierte Gewalt, sprich: die versuchte oder gar vollzogene Vergewaltigung einer jungen Frau (Eve), die verzweifelt die Einberufung ihres Zukünftigen (Ruprecht) in ein Expeditionsheer zu verhindern sucht und dafür ein Attest erbittet.
Am Staatstheater in Mainz macht die Regisseurin Kathrin Mädler den Eintretenden auf den ersten Blick klar, worum es bei ihr geht. »Grab ‘em by the Pussy« ist da hell und provokant als Leuchtschrift hoch über der Bühne von Franziska Isensee installiert, Donald Trumps privat ertappte Betriebsanleitung zum Umgang mit Frauen. Mädler, überdies Intendantin des Theaters in Oberhausen, hat hier schon vor zwei Jahren eindrucksvoll ein zeitgenössisches irisches Stück über eine Vergewaltigung inszeniert (»Der Vorfall« von Deirdre Kinahan, s. Strandgut 6/22).
Der Spielort selbst besteht aus acht meterhohen, in den Bühnenhimmel führenden Stufen, auf denen über den gesamten Theaterabend Artemisia Gentileschis Gemälde »Susanna und die Ältesten« aus dem Jahr 1610 in lila Farbtönen projiziert erscheint. Das dramatische Bild der Künstlerin, die selbst Opfer einer Vergewaltigung wurde, zeigt eine sich zwei übergriffigen betagten Männern zu entwinden suchende junge Nackte – ist insbesondere aus den vorderen Reihen aber nur schwer zu erkennen.
Mehr hat es nicht an Kulisse, allenfalls noch die Bildsprache der Kostüme (Isensee): Der in edlem Schwarz mit transparentem seidenem Oberteil gekleidete Kahlkopf Adam von Vincent Doddema hat es mit acht durchgängig sich in Rosatönen zeigenden Figuren in Rüschen und blonden Perücken zu tun. Bis auf Ruprecht (Carl Grübel) werden sie alle von Frauen gespielt: Adams richterliche Farce um den auf seinem Schädel zerbrochenen Krug der klagenden Marthe Rull (Andrea Quirbach) wird von der Gerichtsrätin Walter (Hannah von Peinen) überwacht und von der Schreiberin Licht (Clara Schwinning) begleitet. Iris Atzwanger gibt die Zeugin Frau Brigitte.
Noch bevor aber Kleists wunderbare Sprache zu hören ist und das Geschehen des nächtlichen Besuchs des Dorfrichters im Zimmer Eves nach und nach enthüllt, führt uns die Inszenierung das Opfer vor Augen. Unter metallischem Dröhnen (Sound: Cico Beck) folgt das Publikum eine gefühlte Ewigkeit lang Luise Ehls sich Armzug um Armzug, von der obersten Stufe bis hinab ins Bühnen-Off quälenden geschundenen Eve. Vor Gericht gibt die frühere Frankfurter HfMDK-Studentin aber eine weitab vom Unschulds-Girlie angesiedelte selbstgewisse Frau im Trotz. Während sich das Trump-Zitat über der Bühne auf »my Pussy« verkürzt und um »My Choice!« erweitert bricht Eve im finalen Monolog selbst mit der Mutter und ihrem Verlobten, die ihr beide in typischer Täter-Opfer-Umkehr die Schuld an der nächtlichen Eskalation im eigenen Schlafzimmer geben. Mit Luise Ehl, Hannah von Peinen, Andrea Quirbach und einem famos aufspielenden Vincent Doddema, dessen Adam am Ende auf der untersten Stufe kauernd gerne vom Erdboden verschluckt werden würde, steht die Inszenierung auf einem starken personellen Gerüst.
Nur eindreiviertel pausenlose Stunden dauert die aufrüttelnde Aufführung, in der trotz zahlreicher Striche und der starken Fokussierung die Kleist’sche Sprache auch ihre heitere Wirkung nicht verfehlt. Es ist nicht der ganze zerbrochene Krug, doch dessen zentrale Scherbe, die auch unsere Gesellschaft zu spiegeln vermag – des Handys der Schreiberin hätte es dazu nicht bedurft.
Weit entfernt davon, dem Mainzer Publikum eine weitere postdramatische Überschreibung à la »Woyzeck« (Strandgut 11/23) zuzumuten, gelingt es Mädlers mutiger und kraftvoller Inszenierung ganz im Sinn der kürzlich in Berlin beim Theatertreffen gefeierten »Rückkehr der alten Dramen«, Kleists Klassiker unter vollem Erhalt seiner ursprünglichen Kraft gegenwärtig zu machen. Bravo.

Winnie Geipert / Foto:  © Andreas Etter
Termine: 4., 12. Juli, 19.30 Uhr
www.staatstheater-mainz.com

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