Im Osten was Neues? (98)

Offiziell hat Herr Erdogan den Armeniern immerhin sein Beileid für deren »tragisch erlittene Todesfälle« 1915/16 ausgesprochen.
Noch immer behauptet gleichzeitig die offizielle Türkei, es habe sich dabei um eine (durchaus erfolgreiche) Umsiedelungsaktion gehandelt, die trotz des sorgsamen Umgangs der Türken mit den umzusiedelnden Armeniern (unter besonderer Berücksichtigung von deren Hab und Gut) einige bedauerliche Kollateralschäden zur Folge gehabt habe. Man müsse das aber vor dem Hintergrund des 1. Weltkriegs sehen, in dem die Armenier keineswegs auf der Seite ihrer türkischen Brüder in Not gewesen seien. Es seien im übrigen nicht 1,5 Mill. Menschen umgesiedelt worden – sondern ungefähr 250.000. Und es könne nicht von Genozid gesprochen werden, denn das sei ein juristischer Begriff, denn es damals noch nicht gegeben habe. Zudem sei die Angelegenheit auch in der Wissenschaft umstritten – und einen Vergleich mit Auschwitz verbitte man sich.
Nur: der Mord an den Armeniern ist ausgiebig dokumentiert worden – unter anderem vom deutschen Auswärtigen Amt. Und ein Unterschied zu Auschwitz besteht darin, dass da die Leute in Gaskammern umgebracht wurden. Die Armenier hingegen mußten zu Fuß durch die Wüste Richtung Irak laufen, wo sie wie die Fliegen an Hunger, Durst, Hitze, Kälte oder Erschöpfung starben.
Es ist eine Schande, dass die offizielle Türkei beinahe 100 Jahre nach dem Massenmord, den man aus heutiger Sicht (was spielt es für eine Rolle, dass es damals den Begriff noch nicht gab?) ohne weiteres Genozid nennen kann, keine angemessene Haltung dazu einnimmt.
Aber die offizielle Türkei, die ja nicht unwesentlich von Herrn Erdogan (»Assimilierung ist ein Verbrechen«) bestimmt wird, weiß auch zu anderen Dingen keine angemessene Haltung einzunehmen.
Z.B. zur Korruption im Staatsdienst und der AKP, zu den eigenen Oppositionellen, zum Islamischen Staat, zu Syrien und den Kurden. Gleichzeitig erklärt Erdogan ausgerechnet die Türkei zur einzigen Hoffnung für den Nahen Osten. So kann man »Zynismus« auch definieren.
Die einzige Hoffnung für den Nahen Osten derzeit sind, wie es scheint, die Kurden – und zwar im Irak, in Syrien und in der Türkei. Widerwillig hat Ankara jetzt genehmigt, dass türkische Kurden nach Kobane ziehen, um mit syrischen Kurden gegen den IS zu kämpfen. Vorsichtshalber hat man vorher noch einige Stellungen der Kurden in der Türkei bombardiert. Und Waffenlieferungen an die Kurden sind selbstverständlich nach wie vor ausgeschlossen. Im übrigen sollen sich die Kurden gefälligst der Freien Syrischen Armee anschließen und Assad stürzen, das sei die Voraussetzung für Frieden im Nahen Osten. Wie Ankara darauf kommt, bleibt ein Geheimnis.

Kurt Otterbacher

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