Hermann Kinders Erzählung »Der Weg allen Fleisches«

Hermann Kinder: Der Weg allen FleischesWas am Ende bleibt

Es gab Zeiten, da kannte man Hermann Kinder. Sein Debüt, der »Bildungsroman« von 1977 mit dem Kinder-typischen Titel »Der Schleiftrog«, wurde nicht nur von Alfred Andersch, Adolf Muschg und Martin Walser gelobt, sondern, nicht zuletzt, auch von der Generation der 68er gelesen, die an dem Scheitern der Revolte zu knabbern hatten. Kinder war unterdessen Akademischer Rat an der Reform-Universität Konstanz. Und er schrieb weiter, so die Erzählung »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, 1978, dann den Roman »Vom Schweinemut der Zeit«, 1980. Doch er schrieb sich langsam aus der größeren öffentlichen Aufmerksamkeit heraus, auch deshalb, weil er nicht mit »Halbwesen« und Forderungen nach orthodoxer Liturgie, das heißt mit kleinen Skandälchen auf sich aufmerksam machte. Jetzt ist endlich eine neue Erzählung erschienen, die wieder einmal eindrucksvoll beweist, dass man diesen Kinder eigentlich kennen müsste.

Erst tauscht er seine »Rennmaschine« gegen ein behäbiges Tourenrad ein, dann schafft er auch das ab. Statt »Speichen und Felgen zu polieren, beglich er Arztrechnungen«. Das ›alter ego‹ von Hermann Kinder beschreibt, schonungslos und genau, doch nicht ohne Ironie, ein Schicksal, das früher oder später uns allen droht: den allmählichen Verfall des Körpers. »Langsam war er geworden. Das hatte Vorteile. Er brauchte nicht mehr zu hetzen.« Aber es wird unaufhörlich schlimmer. Zu Kurzatmigkeit kommt, ausgerechnet am 60. Geburtstag, ein Herzinfarkt. »Die Ärzte gratulierten ihm zu seinem 2. Geburtstag.« Nach wochenlangem Klinikaufenthalt geht er wieder zu seiner Arbeitsstelle. „Er war nun ein Schwerbehinderter und verbesserte die Schwerbehindertenquote des Amtes“. Doch bald muss er wieder in die Klinik. »Sie lassen aber auch nichts aus, sagte der freundliche Chirurg, als er wieder seine dicke Akte studierte.« »Die Frau« besucht ihn am Wochenende, sie arbeitet in Köln, er in Konstanz. »Ihre Liebe war Händchenhalten.« Er hat viel Zeit, und wenn ihn die Schmerzmittel nicht nur dahindämmern lassen, beobachtet er sich und seine Umgebung und schreibt alles in sein Oktavheft. »Wie die Nacht wich, das Licht kam … ob die Vögel, welches Wetter auch sei, immer zur gleichen Zeit laut werden, und, je nach Wetter und Licht, wie laut … und wenn er die Augen schloss, war es ihm, als könne er Heu riechen oder Jauchefelder oder das geteerte Straßenbankett.« Sein Leben besteht jetzt aus den »Erzählungen der Zimmerkameraden, wenn es ihm gelang, sie auszufragen«. »Seine Welt reichte jetzt so weit, wie seine Hände reichten. Immer waren seine Arme zu kurz.« »Das Glück kam in kleinen Schritten“. Er kann sich wieder selbst waschen, ohne Hilfe vom Bett in den Rollstuhl setzen. Fast schon distanziert, kühl beschreibt Kinder sein fortschreitendes Elend. Das zweite Kapitel (das Motto von Wolfgang Schäuble: »Im Traum bin ich Fußgänger.«) handelt von seinen Träumen, die ihm eine Normalität vorgaukeln, die für ihn schon lange nicht mehr existiert. Er saust mit seinem Fahrrad durch die Landschaft, oft fliegt er schwerelos über die Meere, aber immer wieder träumt er auch von seinen begrenzten Fähigkeiten, seinem Versagen. Dieses drastisch eingeschränkte neue Leben wird mit einer beachtlichen Präzision, ohne jede Larmoyanz, ohne Selbstmitleid, mit sanfter Ironie dargestellt und gelegentlich mit schwarzem Humor: Was sehen »Kannibalen in Rollstuhlfahrern? Essen auf Rädern.«

Alles in allem: ein mieses Schicksal, eine düstere Geschichte, die aber trotz allem Mut macht. Kinders Erzählung – der Autor hat sie selbst mit herrlich grotesken Zeichnungen illustriert – kündet von einem unzerstörbaren Lebenswillen. Bewundernswert.

Sigrid Lüdke-Haertel
Hermann Kinder: »Der Weg allen Fleisches«
Erzählung, Frankfurt am Main: weissbooks, 2014, 139 S., 18 €

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