Großmeister und Kleingeister

Schauspiel Frankfurt: Medea © Birgit HupfeldSchauspiel Frankfurt: »Medea« im Nachklang, »Borkman« im Kühlgang

Quer über die Fensterfront der Städtischen Bühnen hängt seit Aberwochen ein Riesentransparent mit dem Bild von Constanze Becker in einer Szene aus »Medea«. Es kündet davon, dass die Frankfurter Inszenierung des Euripides-Dramas (Regie: Michael Thalheimer) zum Berliner Theatertreffen 2013 eingeladen ist. Am 3. Mai eröffnet sie das jährliche Festival der zehn bemerkenswertesten Aufführungen auf deutschsprachigen Bühnen.
Will heißen: Hallo Leute, in diesem Haus geschieht Großes. Das ist nicht ungeschickt, gilt es für den stolzen  Schauspiel-Chef Oliver Reese doch auch, den immer lauter werdenden Spardebatten etwas entgegenzuhalten. Mit dem Rückzug von Petra Roth hat nicht nur sein Haus, sondern die Kultur insgesamt den politischen Rückhalt im schwarzgrünen Magistrat verloren. Dass Subventionen ein populäres Ziel für kleingeistigen Populismus sind, hat sich schnell bestätigt. Gleich im ersten Anlauf verlangten die städtischen Haushaltssanierer dem Kulturressort die größten Opfer von allen ab.

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Zweifellos setzt die Medea-Berufung für das Frankfurts Vorzeigetheater auch ein Ausrufezeichen. Doch zum einen sind Thalheimer-Produktionen, wo immer sie entstehen, Auslesekandidaten. Und zum anderen liegt die letzte Einladung nach Berlin noch nicht so lange zurück, dass sich niemand mehr erinnerte. Sie ging 2009 an das Einar-Schleef-Stück »Gertrud«. Anne Müller spielte mit.
A propos Anne Müller: Zum Saisonende verlässt rund ein Viertel des Ensembles die Stadt, völlig unverständlich für unsereinen. Lieb gewonnene Gesichter darunter: Sandra Gerling und Valery Tscheplanowa, was für ein Aderlass! Nils Kahnwald und Henrike Johanna Jörissen, gefeiertes Lämmchen! Auch Mathis Reinhardt, blauer Engel und cooler MMK-Kunstwächter in Personalunion. Wanderarbeiter alle.

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Theatertreffen-Kandidatin sui generis ist aber auch Andrea Breth, die nun zum ersten Mal am Schauspiel inszenierte: »John Gabriel Borkman« von Henrik Ibsen, das – Hallo Frankfurt – von einem Bankenchef handelt. Eine grandiose Inszenierung, dies vorweg, über vereiste Seelen und abgestorbene Gefühle, die kein Tau mehr zum Leben erweckt. Ob sie gelungen ist, darüber streiten nun zwar die Spezialisten. Unstrittig aber spürt man von der ersten Sekunde an, dass Breth zu den Großmeistern ihres Fachs gehört.
Bevor der schwarze Vorhang sich hebt, stimmt ein getragen tröpfelndes Klavier das im tiefen Dunkel harrende Publikum auf hohe Kunst ein: drei, vielleicht vier Minuten lang. Dann aber haben in einem karg möblierten Großsalon mit meterhohen marmorblassen Säulen und Wänden die Darsteller das Sagen.
Ihr Spiel wirkt wie ein kritischer Kommentar zu Frank Schirrmachers »Ego. Das Spiel des Lebens«. Als Hinweis nämlich, dass grenzenloser Egoismus keineswegs ein Kind des 20. Jahrhunderts ist. Schon deshalb braucht Ibsens 1896 geschriebenes Stück keine Aktualisierung.
Drei Personen stehen im Zentrum: John Gabriel Borkman (Wolfgang Michael), der verblendete Großpleitier, den sieben Jahre Haft wegen Betrugs und acht Jahre selbstgesuchte Isolation im eigenen Haus gebrochen haben, auch wenn er drei Akte lang störrisch-arrogant das Gegenteil behauptet. Und zwei altgewordene, eifersüchtige Schwestern, seine Frau Gunhild (Corinna Kirchhoff) und seine Liebe Ella (Josefine Platt), die nicht minder aussichtslos und eigensinnig um die von seinem Sohn Erhart (Christian Erdt) verkörperte Zukunft kämpfen. Alle anderen Rollen, selbst die Erharts, der mit seiner Flucht ins Vergnügen der Altgeneration den Todesstoß gibt, dienen dazu, dieses starbesetzte Trio Wegscheide zu exponieren.
Wie die verkümmerten Zweigenden an einem Familienstammbaum erscheinen die Drei, die einander lange nicht mehr gesehen haben und sich nun – das ist der Plot und Breths Setzung – auch nicht mehr erreichen. Während sich die Schwestern im 4. Akt des Ibsen-Textes über Borkmans Leiche versöhnen, stirbt hier jeder für sich allein ohne ein weiteres Wort. Ein in kaltes, dunkelgrünes Mondlicht getauchtes Eismeer mit langsam sinkenden Menschenschatten schließt als Bild. Fünf, sechs Minuten dauert das – einfach nur groß.
Ist es ein Manko der Inszenierung, oder ist es tatsächlich so gewollt, dass diese großartig agierenden Einzelschauspieler sich auch im Spiel nicht erreichen? Spiegelt sich darin das »Jeder für sich« des Stücks und/oder das seiner Akteure? Jedenfalls ist jede Figur ein Erlebnis: das Alphatier Michaels, das in einer Zwangshandlung immer wieder die Schuhe poliert, wie um seine Fehltritte zu verwischen, die hysterische Pseudomutter Kirchhoffs, die verschlagene Rächerin Platts.
Schmerzlich ist es dagegen, wie sich Peter Schröder als Borkmans gedemütigter Künstlerfreund Foldal demütig in der Rolle des Stichwortgebers bescheidet. Auch von Claude de Demo, die beim großen Pow-Wow im 3. Akt als Lebedame Fanny wohltuend selbstbewusst eine alte versinkende Welt frappiert, hätte man gern mehr gesehen. Ob auch das so gewollt ist, dass dieser Untergang einen Lacher nach dem anderen provoziert? Dass eine Tragödie immer auch eine Komödie ist, davon war indes schon vorher die Rede.

Winnie Geipert

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