»Eine moralische Entscheidung« von Vahid Jalilvand

Das iranische Kino hat eine große Tradition in der Entfaltung tiefer moralischer Epen aus scheinbar kleinen, alltäglichen Ereignissen heraus. Und es hat dabei eine ganz eigene Bildsprache, einen Rhythmus des Lebens unter schwierigen Bedingungen und großen Entfernungen gefunden. Es zeigt Menschen, die sich auf Regeln und Ordnungen nur schwerlich verlassen können und deswegen auf persönliche Verantwortung setzen müssen. In einem nicht nur für westliche Zuschauer schwer zu durchschauenden Geflecht von Abhängigkeiten, Verweigerungen, Traditionen und Schweigegeboten müssen sie versuchen, das Richtige zu tun. Ein steter Begleiter ihrer Reisen ist die Einsamkeit, ein anderer die Freiheit.

Auch »Eine moralische Entscheidung« beginnt mit einem fast alltäglichen Geschehen: Ein »kleiner« nächtlicher Unfall auf Teherans Straßen, verursacht durch einen rücksichtslosen Verkehrsteilnehmer, lässt den Gerichtsarzt Dr. Kavih Nariman ein Motorrad rammen, auf dem ein Ehepaar mit seinen zwei Kindern unterwegs ist. Der Junge Amir hat sich am Kopf verletzt, wohl nichts Schlimmes, aber Nariman besteht gegen den zornigen Vater darauf, dass er zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht wird. Die Polizei will er allerdings lieber heraushalten, schließlich ist seine Versicherung abgelaufen, und das könnte Scherereien mit sich bringen. Nariman drängt stattdessen Moosa eine Entschädigung für die Kosten auf. Doch am nächsten Tag wird der Junge in Narimans Klinik gebracht. Amir ist tot, und eine Autopsie soll die Todesursache klären.
Dr. Nariman ist verzweifelt, denn er gibt sich selbst die Schuld. Aber seine Kollegin Dr. Sayeh Behbahani, erkennt etwas ganz anderes. Nicht die Kopfverletzung, sondern eine Lebensmittelvergiftung hat Amir getötet. So rückt ein zweiter Schuldiger in den Vordergrund. Der Vater, der seinen Sohn womöglich verdorbenes Fleisch hat essen lassen. Die Trauer schlägt bei seiner Mutter Leila in verzweifelten Zorn gegen ihren Mann um, sie will ihn verlassen. Und Moosa wiederum ist blind vor Wut gegen den vermeintlich Verantwortlichen, der ihm das verdorbene Fleisch verkaufte, seine Armut ausnutzend. Auch der dritte Schuldige leugnet zuerst, und selbst bei ihm ist die Kette der Schuld nicht zu Ende. Und auch nicht die der Gewalt. Aus der persönlichen Tragödie entfaltet sich das Bild einer Gesellschaft, in der die Schuld zirkuliert wie ein Gift.
Eine Anzahl von Nebenhandlungen, die Konflikte mit seiner Kollegin, die mehr als eine Kollegin ist, oder mit einem offensichtlich nachlässigen Kollegen, eine ständige, kaum zu kontrollierende Aggression, die überall auf einen Ausbruch lauert, die Verweise auf Dr. Narimans Arbeit (eine Frau, die von ihrem Mann geschlagen wird, und von Dr. Nariman eine Bescheinigung über ihre Verletzungen für das Schmerzensgeld braucht, ein Vaterschaftstest, das Opfer einer Straßenprügelei, die die Polizei nicht untersucht hat), ja selbst winzige Details (die Aufforderung, beim Motorradfahren auf den Tschador zu achten, der Hinweis auf das Fleisch, das vielleicht so billig war, weil es nicht nach den religiösen Vorschriften geschlachtet war) machen deutlich, dass die moralische Entscheidung, um die es geht, vor dem Hintergrund einer Gesellschaft fallen muss, in der äußere Form und innere Wirklichkeit weit auseinandergehen. Alle leben mit einer Schuld, die sie nicht äußern, und das Verheimlichen macht die Sache schlimmer. Aber eine einfache Wahrheit gibt es auch nicht.
Die kreisende Erzählweise verbindet Vahid Jalilvands Arbeit (es ist erst sein zweiter Spielfilm) mit den realistisch-poetischen Filmen der iranischen Cinematographie von Dariush Mehrjui bis Jafar Panahi – ebenso wie die Kunst, sublime Beobachtungspositionen zu finden (eine Unterredung, die möglicherweise eine Wende bedeutet, sehen wir im Rückspiegel eines Autos, während nur das Ticken des Blinkers zu hören ist, und leere Gänge eines Instituts können sehr genau ausdrücken, wie es in einem Menschen aussieht, der es dort mit den Toten zu tun hat), doch Jalilvand geht auch einen eigenen Weg in der Unerbittlichkeit seiner Analyse und in dem Mut, uns mit einer großen, offenen Frage zu entlassen. Die Gründer des neuen iranischen Films waren in ihrem Humanismus stark vom Neorealismus beeinflusst; Filmemacher wie Jalilvand fügen einen Anteil des »transzendentalen Stils« bei. Wie bei Bresson darf man weniger auf eine Lösung als auf eine Erfahrung von Gnade hoffen.
Wieder kann man in einem iranischen Film das uneitle und genaue Spiel der Darsteller nur bewundern. Es ist ihre Aufgabe, die Wirklichkeit des Lebens in der iranischen Gesellschaft von heute zu zeigen. Aber sie verstehen auch das Fundamentale und Überzeitliche ihrer Darstellung. Präzises Zeitbild und klassische Tragödie in einem hallt »Eine moralische Entscheidung« noch lange im Zuschauer nach.

Georg Seeßlen (Bild: © Noori Pictures)
EINE MORALISCHE ENTSCHEIDUNG
(No Date, No Sign)
von Vahid Jalilvand, Iran 2017, 104 Min.
mit Navid Mohammadzadeh, Amir Aghaee, Hediyeh Tehrani, Zakieh Behbahani, Saeed Dakh, Alireza Ostadi
Drama
Start: 20.06.2019

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