»Ein Leben«von Stéphane Brizé

Guy de Maupassant gilt als ein großer Erzähler von Geschichten, die sich gut zum Verfilmen eignen. Max Ophüls hatte 1951 drei von ihnen als Vorlage für sein Meisterwerk »Le plaisier« ausgewählt. Diese und andere Adaptionen, wie den Film »Ein Frauenleben« von Alexandre Astruc, ebenfalls nach Maupassants erstem Roman gedreht, sollte man nicht erwarten, wenn man sich »Ein Leben« von Stéphane Brizé anschaut.

Denn Brizés Film ist ganz gegen den Strich konventioneller Literaturverfilmungen gebürstet, die heutzutage oft in einem etwas abschätzigen Ton als Kostümfilme bezeichnet werden. Regisseur Stéphane Brizé, der mit dem eindrucksvollen Gerichtsvollzieher-Porträt »Man muss mich nicht lieben« und der originellen Romanze »Mademoiselle Chambo« auch in hiesigen Arthouse-Kinos ein Publikum gefunden hat, befreit sich in »Ein Leben« von der herkömmlichen Erzählweise.
Maupassants Geschichte der jungen Landadeligen Jeanne (Judith Chemla), die den verarmten Viscomte Julien de Lamare (Swann Arlaud) heiratet, um von ihm mehrfach betrogen zu werden, hat er als pointilistisches Frauenportät aus dem 19. Jahrhundert angelegt.
Statt in Dialogen Jeannes naive Weltsicht und Juliens egoistischen Charakter zu verdeutlichen, zeigte er Jeanne bei der Gartenarbeit mit ihrem Vater und weiteren Tätigkeiten. Schaut den Menschen einfach zu, dann könnt ihr sie auch verstehen, scheint er uns zu sagen. Einmal bekommen wir auch einen Streit mit, als Julien seine Frau ermahnt, sparsamer zu heizen.
Weil er es vermeidet, dramatische Entwicklungen in ihrer Entstehung und ihren Höhepunkten zu zeigen, schafft er eine eigene, sehr dichte Atmosphäre, nimmt aber dabei einen Mangel an Spannungsmomenten in Kauf.
Dass Brizé eine Gegenwelt zu den Bilderreizen des Mainstreamkinos aufbauen will, erkennt man schon an dem klassischen 1:1,33-Format (academy ratio). Um bei der Filmgeschichte zu bleiben: Es gibt besonders im französischen Film eine Schule, die sich stark des Ausschnitthaften des Films bewusst ist. Robert Bresson ist deren markantester Vertreter. Doch was bei ihm in ausgewählten Bildern gefilmt ist, fängt die Handkamera von Antoine Héberlé tastend und suchend ein. Das zurückgenommene Agieren der Schauspieler erinnert wieder an Bresson, der ja in seiner späteren Phase nur noch mit Laiendarstellern gearbeitet hat.
Brizés »Ein Leben« ist eine eigenwillige filmische Umsetzung des ersten Maupassant-Romans. Sie als einzig gültige zu feiern wäre sicherlich übertrieben. Denn neben Maupassant steckt eben auch eine Menge Brizé darin. Ob sein stiller Protest gegen das populäre Mainstreamkino beim Arthouse-Publikum ankommt, wird man sehen.

Claus Wecker
EIN LEBEN (Une vie)
von Stéphane Brizé, F 2016, 119 Min.
mit Judith Chemla, Jean-Pierre Darroussin, Yolande Moreau, Swann Arlaud, Nina Meurisse, Clotilde Hesme
Drama, Start: 17.05.2018

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