»Das Mädchen, das lesen konnte« von Marine Francen

Es war einmal ein Dorf in Frankreich, da lebten nur noch Frauen und Kinder. Die Männer waren von Soldaten verschleppt worden. Die zurückgebliebenen Frauen organisierten das Leben im Dorf und auf den Feldern. Sie hatten ein Matriarchat der besonderen Art errichtet. Der Film »Das Mädchen, das lesen konnte« handelt davon.

Wir schreiben das Jahr 1851. Nach der französischen Revolution versuchen die Konterrevolutionäre, das Rad zurückzudrehen. Louis Napoléon will sich als Napoléon III zum Kaiser der Franzosen krönen lassen, doch die Republikaner im Land kämpfen gegen dieses Vorhaben. Der Bürgerkrieg erreicht auch ein abgelegenes Bergdorf in der Provence.
Dort werden die Männer, die noch am Leben geblieben sind, von den umherziehenden Truppen Napoleons mitgenommen. Ihre Frauen bangen um sie, weil sie nicht wissen, was mit ihnen geschehen ist. Doch ihr Kummer hält die Dorfbewohnerinnen nicht davon ab, die Felder zu bestellen und die Häuser in Ordnung zu halten.
Das ist mit Mühen verbunden. Auf dem Feld schneiden sie das Getreide mit kleinen Sicheln, ihre Ernte ist mühsamer und dauert länger. Doch sie kommen zurecht. Es geht auch ohne Männer ist eine Botschaft des Films, mit der er das Frauenbild bestätigt, das derzeit nicht nur im Kino Konjunktur hat.
Jedoch, ohne Männer gibt es eben auch keine Kinder. Und der Wunsch der Frauen, Kinder zu bekommen und das Dorf am Leben zu erhalten, hat etwas Archaisches, das wiederum aus unserer Zeit gefallen zu sein scheint. Mit einer heutzutage ungewohnten Selbstverständlichkeit verbindet der Film die Sexualität mit der Fortpflanzung.
Die Frauen überlegen nämlich, was sie tun werden, wenn ein Mann auftauchen sollte.
Sie beschließen, dass er allen heiratsfähigen Frauen gehören soll, nicht nur einer allein. Wenn man so will, ist das ein Konzept, das man eher den Männern zuschreiben würde, denn es verleugnet die emotionalen Probleme, die es mit sich bringen kann. Als schließlich ein Fremder auftaucht, der mit dem nötigen Respekt und der gebotenen Zurückhaltung die Gastfreundschaft der Frauen annimmt und zudem auch recht passabel männlich ausschaut, kommt es zum Praxistest.
Es spricht nun für die Regisseurin Marine Francen, dass ihr die Konstellation »ein Mann allein unter vielen Frauen« nicht zum voyeuristischen Schwank gerät. So vorsichtig, wie der Fremde den Frauen und die Frauen dem Fremden begegnen, so behutsam schildert eben auch der Film die Stimmung im Dorf.
Es wird wenig geredet. Gezeigt wird, wie sich die Arbeitsverhältnisse ändern. Jean übernimmt schwerere körperliche Arbeiten, und die Frau, die ihn mit Essen versorgt, wird seine Geliebte. Violette hat von ihrem Vater das Lesen gelernt, und weil er seine Bücher wie einen Schatz verwahrt hat, bekommt Jean aus Vaters Buch am Abend vorgelesen. Die vorlesende Frau steht dabei für das Bürgertum, das sich von der aristokratischen Bevormundung befreit hat.
Ihren Film wolle sie auch politisch verstanden wissen, hat die Regisseurin verkündet, und eine Dämonisierung der Männer habe sie um jeden Preis vermeiden wollen. Als Jean zur nächsten Frau weitergereicht werden soll, verschwindet er erst einmal, weil er sich benutzt fühlt.
Marine Francen hat sich für ihr Spielfilmdebüt den biographischen Bericht einer Zeitzeugin ausgesucht. Sie zeigt im beinahe schon vergangenen 3:4-Format eine vergangene Welt wie in einem Guckkasten. Sie findet wunderbare Bilder, die alten Gemälden nachempfunden sind. Ihr Film ist ein höchst origineller Beitrag in der Kategorie, die so gerne mit dem Etikett »Frauenfilm« versehen wird.

Claus Wecker
DAS MÄDCHEN, DAS LESEN KONNTE
(Le semeur)
von Marine Francen, F/B 2017, 98 Min.
mit Pauline Burlet, Géraldine Pailhas, Alban Lenoir, Iliana Zabeth, Françoise Lebrun, Raphaëlle Agogué
Romanze
Start: 10.01.2019

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