Buten un binnen (89)

Der gemeine Engländer (und sie natürlich auch) entscheidet sich leider erst nach Drucklegung dieses Heftes für oder gegen den Verbleib seines Landes in der Europäischen Union. Aber gleich wie sie sich entschieden haben werden, der durch das Referendum angerichtete Schaden für eine europäische Union wird so bald, wenn überhaupt nicht mehr zu reparieren sein. Alle mehr oder minder maßgeblichen Medien und schlauen Köpfe machten sich Gedanken über die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Brexit: schlecht für die deutsche Landwirtschaft und den deutschen Maschinenbau, wenn durch einen Austritt der Zugang zum englischen Markt schwieriger wird. Gut für den Finanzplatz Frankfurt, der auf den Zustrom aus dem dann verödeten Bankenplatz London hofft (dass wir damit dann wohl auch die unbezahlbaren Londoner Mieten gleich mit übernehmen, war weniger das Thema). Aber England wehrt sich ja mit dem Referendum überhaupt nicht gegen eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Kontinentaleuropäern; die wollen sie dann mit separaten Abkommen wieder in den Griff kriegen. Nein, sie wehren sich gegen eine Union der europäischen Staaten, ganz egal, ob sie nun drinnen oder draußen sind. Denn selbst wenn sie sich mit knapper Mehrheit für eine weitere Mitgliedschaft in der EU entschieden haben werden, werden sie auch weiterhin alles daransetzen, den Traum einer ganzen Nachkriegsgeneration von einem vereinten Europa nicht Wirklichkeit werden zu lassen.

Schon der damalige französische Präsident De Gaulle sah in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts bei einer Mitgliedschaft Großbritanniens dessen ständige Forderung nach Sonderrechten voraus, die eine wirkliche europäische Integration verhindern (wobei natürlich nicht verschwiegen werden darf, dass er dadurch die französische Vormachtstellung in Gefahr sah). Nichts symbolisierte die Nicht-Zugehörigkeit Englands zu Europa mehr, als dessen Ablehnung des Beitritts zum Schengen-Abkommen zum Wegfall der Grenzkontrollen. Dieser Schritt war der erste, der den Menschen das geeinte Europa in ihrer direkten Erfahrungswelt und damit auch emotional näherbrachte. Ohne Kontrolle nach Frankreich, Belgien, Schweden, Italien und sonst wohin versöhnte viele mit dem agrarsubventionierten Wirtschaftsraum Europa. Auch die Einführung gemeinsamer Geldscheine und Münzen war für viele, insbesondere junge Kontinental-Europäer ein identitätsstiftendes Ereignis, mag der Euro ein Jahrzehnt später als Finanzinstrument auch noch so umstritten sein. Aber das Gefühl der Gemeinsamkeit, als ich im Juni 2002 in einem Straßencafé im baskischen Küstenstädtchen Algorta zum ersten Mal mit gleicher Münze meinen Kaffee bezahlte wie die französischen Touristen am Nebentisch oder die spanischen Einheimischen, war einfach beeindruckend. Für England aber wäre die Teilnahme an einer gemeinsamen Währung ein weiterer Schritt zum Verlust ihrer insularen Eigenständigkeit. Dass die Londoner Finanzcity der größte Euro-Handelsplatz ist und britische Unternehmen in ihren Wirtschaftsbeziehungen selbstverständlich fast ausschließlich mit dem Euro rechnen, zeigt das rein wirtschafts-funktionale Interesse Englands am europäischen Markt – und zugleich das Desinteresse an den europäischen Menschen.

Ganz gleich, ob binnen oder buten (drinnen oder draußen), England leistet der europäischen Desintegration Vorschub. Ausgerechnet das einst weltoffene Großbritannien gibt den nationalistischen Abschottungspolitikern auch auf dem Kontinent Argumentationshilfen. Liebe Engländer: euer Königshaus war in den vergangenen Jahrhunderten durch querbeet Verheiratungen mal viel europäischer aufgestellt. Also: back to the roots.

Jochen Vielhauer

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