»Atlas« von David Nawrath

Das deutsche Kino ist nicht gerade bekannt dafür, sich allzu sehr um die Belange der Menschen am unteren Ende der Einkommensskala zu kümmern. Aber mittlerweile häufen sich doch die kritischen Blicke ins Prekariat und auf Menschen, denen, nach dem berühmten Wort eines Fußballers, zuerst das Glück fehlt, und dann kommt auch noch Pech dazu.

Anders gesagt: In Filmen von Andreas Dresens »Sommer vorm Balkon« bis zu Lucia Chiarlas »Reise nach Jerusalem« gibt es endlich filmische Parteinahmen für die Verlierer des nicht mehr gar so flotten Turbokapitalismus in diesem Land. Dort kann man sehen, dass eine Abwärtsspirale neben dem Kampf ums schiere Überleben immer auch einen Kampf um die persönliche Würde bedeutet. Die genannten Filme gönnen ihren Protagonisten, zumindest in den Schlusseinstellungen, einen kleinen Sieg.
»Atlas« von David Nawrath aber dreht diese Spirale noch um eine Umdrehung weiter.
Der Film spielt in einem Milieu, in dem die Verlierer nur überleben, indem sie noch Schwächere drangsalieren. Einer von denen ist der etwa 60-jährige Möbelpacker Walter Scholl, schmerzhaft genau gespielt von Rainer Bock, der mit seinen Kollegen immer dann Arbeit hat, wenn jemand unter dem Druck der Gentrifizierung eines Stadtviertels seine Wohnung zwangsweise räumen muss.
Viel Skrupel, viel Mitleid darf man bei einem solchen Job nicht haben, aber man sieht auch, was das mit einem Menschen macht. Walter hat einiges in sich hineingefressen, neben der körperlichen Anstrengung hat auch die psychische Belastung Spuren in seinem Gesicht, in seinem Gang, in seinen Lebensumständen hinterlassen. Sein Chef hat sich, natürlich auch er im gnadenlosen Überlebenskampf, mit dem brutalen Clan der Afsaris eingelassen, für die er Häuser kauft, um die Mieter dann von seinen Leuten vertreiben zu lassen, erst mit der Androhung, dann mit manifester Gewalt. Walter, einst Gewichtheber, macht da mit, wenn auch nie mit der Gleichgültigkeit seiner Kollegen. Und schon gar nicht mit der rohen Brutalität des Schlägers, den die Afsaris dem Trupp beigestellt haben.
Walter schleppt viel mit sich herum, aber reden kann und will er nicht darüber. Dazu gehört auch, dass er vor langer Zeit seine Familie verlassen hat. Und eines Tages meint er, in einem der Mieter, der mit seiner jungen Familie aus der Wohnung vertrieben werden soll und sich gegen die Vertreibung wehrt, seinen Sohn zu erkennen. Zwischen der Loyalität zu seinem Chef und seinen Kollegen, der zunehmenden Bedrohung und der so lange verschütteten Väterlichkeit, sammelt er seine letzten Kräfte, um seinem Sohn Jan zu helfen. Es wird ein verdammt einsamer Kampf.
Für ein Spielfilm-Debüt riskiert David Nawrath in »Atlas« wirklich einiges. Ein sperriges, von allen Feelgood-Schlenkern verlassenes Thema, eine düstere Atmosphäre, in der man Schmutz und Tristesse ohne Spur von sozialer Exotik spürt, und vor allem einen Charakter, der sich nie direkt äußert, dem man eher als durch Dialog-Sätze denn durch verschiedene Varianten des Schweigens näherkommt. Das mit Recht mit dem Deutschen Drehbuchpreis ausgezeichnete Script von Nawrath und Paul Salisbury kommt erst durch die schauspielerischen Leistungen wirklich zum Leben. Neben Rainer Bock (wir vermuten: die Rolle, zu der vieles vorher nur Vorstudie war, die Rolle eines Schauspielerlebens) sind auch die anderen Darsteller glänzend besetzt, nicht obwohl, sondern gerade weil sie der zentralen Charakterstudie dienen.
Natürlich könnte man auch an diesem Film etwas zu kritisieren finden. Zum Beispiel, dass die »richtig« Bösen wieder sehr eindimensional gezeichnet sind und man darüber vergessen könnte, dass auch sie nur Teil eines Systems von Fressen-oder-Gefressen-Werdens sind. Aber solch ein Einwand wiegt gering gegenüber der grimmigen Wucht und ja, auch angesichts der düsteren Poesie von »Atlas«. Die Kamera-Arbeit von Tobias von Börne hat gewiss maßgeblichen Anteil am Gelingen des Projekts; sie zeigt die Kehrseite einer Stadt wie Frankfurt als System von Sackgassen und Endstationen. Und erinnert uns immer wieder daran, dass wir es nicht mit Metapher und Kulisse zu tun haben. Sondern mit deutscher Wirklichkeit.

Georg Seeßlen
ATLAS
von David Nawrath, D 2018, 100 Min.
mit Rainer Bock, Albrecht Schuch, Thorsten Merten, Uwe Preuss, Roman Kanonik
Drama
Start: 25.04.2019

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