Andreas Maiers großes Projekt: Die Welt in der Wetterau. Die Wetterau in der Welt.

Was sich einst William Faulkner im Süden der USA erschaffen hatte, eine real/fiktive, eine mythische Landschaft, das hat sich, mit anderen Mitteln, auch Andreas Maier vorgenommen.

Es sind, wenn ich richtig gezählt habe, jetzt tatsächlich die versprochenen zehn Bände seiner geplanten »Ortsumgehung« geworden. Der Verlag macht dazu merkwürdigerweise keinerlei Angaben. Alle Bände in gleicher Ausstattung, im gleichem Format, in etwa gleicher Länge, dem gleichen Personal, in der gleichen Gegend, (fast) immer mit mindestens einem Auftritt der »Buchhändlerin«: »Zimmer«, »Haus«, »Straße«, »Ort«, »Kreis« und so weiter. Eine Heimatkunde der besonderen Art. Die Wetterau, um Friedberg und Bad Nauheim herum. Familiengeschichte(n), Entwicklungsromane, in einem Tonfall, den Maier genau für dieses Vorhaben entwickelt hat. Jetzt, in dem vermutlich letzten Band dieser Reihe, geht der Autor auf Reisen.

Die Wetterau dient nur noch als Ausgangspunkt. Die »Ortsumgehung« zieht jetzt weite Kreise. Piemont und Griechenland, Weimar und Südtirol, immer mit Missmut und dem bösen Blick unterwegs, der wieder an Thomas Bernhard erinnert. Sechs Kapitel. Über die halbe Welt. Immer die gleiche Stimmung.
Der kleine Andreas erinnert sich bestens an die verhassten Reisen mit Eltern und Geschwistern in die Ferienwohnung nach Brixen. Man startet, voll bepackt, im Morgengrauen, mit Kaffee und geschmierten Broten. Andreas liest seine Asterix-Hefte.
Auf seiner letzten Reise mit den Eltern nach Griechenland sagt er sich: »Sei so anstrengend wie möglich! Verdirb es ihnen, soweit es in deiner Macht steht! Lass sie für diese Reise büßen!« Wann immer möglich, zieht er sich zurück. Am Nachmittag in einer Bar bestellt er Ouzo. »Ich wusste, man trank das als Grieche.« Meine Ein-Wort-Bestellung ließ wie von Zauberhand vor mir erscheinen: »Glas, Ouzo, Karaffe, Wasser, Eis, Löffel, zweites Schälchen. Zwölf Dinge auf ein Wort hin.« Und er lernt noch mehr: Die Nordeuropäer stopfen Salzstangen oder Fischli beim Fernsehen oder als Beigabe zum Glas Wein in sich hinein. Die Südeuropäer stecken langsam und begleitend zu jedem neuen Schluck eine Olive in ihren Mund. Dabei fühlt sich Andreas genötigt, die Kerne unbemerkt auszuspucken und aufgereiht in das dafür vorgesehene Schälchen zu deponieren. »Es war eine geradezu gesellschaftstaugliche Handlung, die ich aus dem Entsorgen der Kerne herausarbeitete.«
Oulx im Piemont scheint ihm einige Jahre später als der ideale Ort sich umzubringen. Er hatte bis dahin, er war jetzt Anfang zwanzig, viel geschrieben. Aber es blieb »ein völliges Nichts«. Er fragt sich: »Ist daran irgendetwas? Kann es so weitergehen?« Fast emotionslos geht er die verschiedenen Tötungsarten durch. Wenn er sich am Tisch erstach, »würde ich auf den Boden schlagen und alles vollsauen«. Die sauberste und nächst liegende Lösung wäre natürlich die Badewanne. Aber: »Es gab keine Badewanne.« Er verschiebt das Projekt als sich Besuch ankündigt. »Der Besuch würde spaßig werden, das wusste ich im Voraus. Den Besuch konnte ich gern noch mitnehmen.«
So fällt der Selbstmord glücklicherweise ins Wasser. Zurück in Frankfurt lässt er seiner Begeisterung über den Betonklotz in der Gräfstraße 74 bis 76 freien Lauf. Dort waren große Teile der Geisteswissenschaften der Frankfurter Uni kaserniert. »Das Gebäude ist gebaut in einer Sachlichkeit, die an Müllcontainer erinnert.« (Mittlerweile steht der gesamte Komplex unter Denkmalschutz.)
Andreas Maier schätzt seine Herkunft recht nüchtern ein. Er sieht die Verfallsgeschichte: vergleichbar den »Buddenbrooks«, ein »Generationenabwirtschaftungsprinzip«. Die ersten Generationen bauen auf, dann kommt die Stagnation, dann wird abgewirtschaftet. »Ich bin die letzte Generation, die der vermeintlich Verfeinerten, der Ästhetischen, mit denen keine Firma und nicht mal mehr eine Familie zu machen ist, die dann aber Bücher schreiben oder anderweitig untergehen.«
Das Buch endet mit dem Kapitel Weimar, damals europäische Kulturhauptstadt. Sieben Millionen Besucher. Maier ist zu einer Lesung eingeladen. Kein unbedingt böser, aber doch ein schonungsloser Blick, auch auf unsere Brüder und Schwestern.

Sigrid Lüdke-Haertel
Andreas Maier: Die Städte. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2021, 190 S., 22 Euro

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert