Alice Springs aka June Newton in den Opelvillen

Im ersten Stock wird es ernst. Charlotte Rampling, Caroline von Monaco, Karl Lagerfeld, Catherine Deneuve, Yves St. Laurent feuern ihre Blicke ab. Unverwandt, unverblümt, kühl, leicht desinteressiert. Man fühlt sich sofort in der Rolle, in der man ja auch ist: Voyeur. Dieser Blickaustausch findet auf Augenhöhe statt, die Modelle dulden keinerlei Durchdringung, psychologisch oder was immer auch. Dies ist die Stärke der fotografischen Inszenierungen von Helmut Newton, und sie ist es auch von seiner Frau June Newton, alias Alice Springs. Es sind ihre Signaturen. Die Blicke prallen ab.
Die Opelvillen zeigen in »Alice Springs. Retrospektive« neben dem künstlerischen Werk von June Newton auch Arbeiten ihres Ehemanns, zeigt Porträtaufnahmen ein und derselben Person – Anjelica Houston, Hanna Schygulla, Catherine Deneuve. June und Helmut Newton interpretieren trotz identischer Stilmittel: schwarz-weiß, Porträt oder Brust-bis Dreiviertelporträt, deutlich markierter, mitunter leicht verfremdeter Ausschnitt – komplett verschieden. Anjelica Houston ist bei Alice Springs eine mondäne, 1950er Jahre Stilikone, rauchend, stark, bei ihrem Mann eine aztekische Prinzessin mit einer Krone aus Agavenblättern, stark an der Ikonografie des berühmten mexikanischen Kameramannes Gabriel Figueroa erinnernd. Auch ihr Bezug zur Nacktheit des jeweiligen Fotomodells ist ein Thema, das Helmut Newton 1993 eine Klage der Frauenzeitschrift »Emma« einbringen sollte – wegen sexistischer, rassistischer Darstellung des weiblichen Körpers.
Die Ausstellung beginnt mit einer biografischen Vorortung von June Newton, die als Bühnenschauspielerin in Melbourne begann und in ihrer Heimatstadt Helmut Neustädter kennen lernte, der vor den Nazis aus Deutschland geflohen war und dort zu Helmut Newton wurde. 1948 heiraten sie, ziehen 1961 nach Frankreich. Im Parterre wird ihr Kennenlernen dokumentiert. Die einzigen Fotos, die hier buchstäblich von der Größe her aus dem Rahmen fallen, sind ihre gegenseitigen Porträts aus den 1990er Jahren.
Ein Saal ist komplett dem Projekt »Us and them« gewidmet. Es sind intime, schöne Porträts und kunstvoll inszenierte Bilder, die von den 1940er bis in die 1970er Jahre hinein entstanden, z.B. June nahezu nackt vor einer Weide in der nächtlichen Cote d’Azur, Helmut erschöpft mit der Kamera, hinter sich auf dem Bett ein nacktes Model. Bilder von tiefer Verbundenheit und bei aller Intimität voller gegenseitigem Respekt. June zeigt sich als stilbildende Vorläuferin der späteren Modeaufnahmen ihres Mannes, stark, schön, kühl, unnahbar. Rollenspiel war für die ehemalige Schauspielerin eine Etüde, ein kompositorischer Ansatz – auch für ihre eigenen späteren Arbeiten.
Die schöne June mit den großen Augen und den hohen Wangenknochen wird in den 1970er Jahren selbst zur Modefotografin; ihr Mann ist da bereits ein gefeierter und sehr gefragter Starfotograf für die Vogue. 1981 mit ihrem Umzug nach Kalifornien rückt Hollywoods Garde in ihren Fokus. Und obwohl in dieser Ausstellung Alice Springs im Mittelpunkt steht, ist vielleicht eine Aussage von Biograf José Alvárez – auch über sie und Newtons enge Verbindung zu ihr – erleuchtend: »Niemals lässt er den verletzten Mann erahnen, der er ist«. Helmut Neustädter war Schüler bei Yva, Else Neuländer-Simon, die vom Nazi-Regime im Vernichtungslager Sobibor ermordet worden war.

Susanne Asal/ Foto: Ausstellungsansicht Alice Springs. Retrospektive, Opelvillen, 2024
© Kunst- und Kulturstiftung Opelvillen Rüsselsheim, Foto: Frank Möllenber
Bis 11. August: Di., Do.–So., 10–18 Uhr; Mi., 10–20 Uhr
www.opelvillen.de

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