Zur Buchmesseneröffnung

Das Beste von der Buchmesse

Ausgewählt von Martin Lüdke

Gastland der Internationalen Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr ist Indonesien. Meine Kenntnisse über dieses riesige Land gleichen denen unsres alten Bundespräsidenten Heinrich Lübke, der nach einem Staatsbesuch den deutschen Radiohörern verraten hat, dass Indonesien aus vielen, vielen Inseln bestehe und zwischen den Inseln Wasser sei (auf einer Schallplatte dokumentiert). Ich möchte meine Borniertheit nicht entschuldigen, sondern offen zugegeben, dass ich – literarisch gesehen – nicht-indonesische Bücher für wichtiger halte. Nichts gegen das Gastland, aber ich empfehle:


>> Jonathan Franzen

Es ist in Amerika nicht ganz so ungewöhnlich und trotzdem schräg, seine Tochter Purity, also eher Reinheit als, wie der deutsche Titel sagt, Unschuld zu nennen, ihr den Vater und sogar den Geburtsort zu verschweigen. Franzen hat wieder einmal einen großen, auch umfangreichen Familienroman geschrieben, der in Oakland, in Bolivien und Ostberlin spielt, von der Stasi, von Whistleblowern, von Mord und Verrat, Liebe und Treue handelt und eigentlich in die Ecke zu pfeffern wäre, wäre er eben nicht von Jonathan Franzen. Klar, dass man mäkeln kann. Klarer noch, dass man jubeln muss. Der amerikanische Literaturstar, Philip Roth hält ihn für den besten unserer Tage, vermag es, lebendige Charaktere zu schaffen und in eine packende Handlung zu stecken und so begeisterte Leser zu finden.

Jonathan Franzen: »Unschuld«. Roman
Aus dem Englischen von Bettina Arbanell und Eike Schönfeld, Reinbek: Rowohlt Verlag, 2015, 830 S., 26,95 Euro


>> Ulrich Peltzer

Eines der gewichtigsten Bücher dieses Herbstes, Peltzers »Das bessere Leben«, steht, bei der unkonventionellen Besetzung der Jury durchaus erstaunlich, auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Denn Peltzer erzählt tatsächlich von dem Kampf um den Sinn unseres Lebens in den Zeiten des globalisierten Finanzkapitals. Das klingt, zugegeben, erst einmal abschreckend, zumal der Autor als einer der klügsten in unserer gegenwärtigen Literatur gilt und sich immer auf der Höhe zeitgenössischer Reflexion bewegt. Aber, das eben ist das Erstaunliche, Peltzer kann erzählen. Seine Figuren werden plastisch, auch dank einer  besonderen Erzähltechnik, die es ihm erlaubt, sie von innen und außen zugleich zu zeigen. Wie immer bei Peltzer sind sie auch eingebettet in eine Geschichte des Widerstands im zwanzigstens Jahrhundert. Also: nicht ganz einfach, aber richtig stark.

Ulrich Peltzer: »Das bessere Leben«, Roman, Frankfurt am Main: S.Fischer Verlag, 2015, 446 S., 22,99 Euro


>> Adolf Endler

Wer Adolf Endler nicht kennt, hat was verpennt. Ich fürchte, das betrifft einige. Jetzt gibt es die vielleicht letzte Gelegenheit dazu, das nachzuholen. Der »Tarzan am Prenzlauer Berg«, so ein Buchtitel, war 1955 aus Düsseldorf in die DDR übergesiedelt, aus politischer Überzeugung, wie die SED-Funktionäre zu ihrem Leidwesen bald spüren mussten. »Der Pudding der Apokalypse«, Gedichte aus den Jahren 1963–98, Summe seines Lebenswerks, zeigt den anarchischen Dichter, der zur Leitfigur der Dissidenten in der DDR geworden war. Aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, wirkte und wühlte er im Untergrund. Jetzt bringt der Wallstein-Verlag, dessen Lektor Thorsten Ahrend sich seit Jahrzehnten schon um Endlers Werk gekümmert hat, Gedichte und Capriccios aus dem Nachlass heraus. Viel Unsinn dabei, aber herrlicher Unsinn, von der Einsicht getragen: »Nicht in glitzernder Ruhmeshalle;/Ob Quästor, ob quengelnde Qualle,/Auf dem Flohmarkt landen wir alle!«

Adolf Endler: »Kiwitt, kiwitt. Gedichte und Capriccios«, Göttingen: Wallstein Verlag, 2015, 70 S., 18,90 Euro


>> Clemens J. Setz

Noch so’n Vogel. Der Literaturchef der »Welt« ist regelrecht ausgerastet, weil Clemens Setz nicht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises kam.  Ich kenne andere Kollegen, die ausrasten würden, wenn er auf diese Liste gekommen wäre. Der Grazer Autor, studierter Mathematiker, gerade mal 33 Jahre alt, zeigt sich in seiner »Stunde zwischen Frau und Gitarre« wieder einmal als legitimer Erbe seines amerikanischen Vorbilds David Foster Wallace. Eine haarsträubende Story, die in einem Wohnheim für behinderte Menschen beginnt, in dem ein Rollstuhlfahrer, einst Stalker, regelmäßig von seinem ehemaligen Opfer besucht wird, dessen Frau er einst in den Selbstmord getrieben hatte. Ein Rachefeldzug aberwitziger Art, der, wer weiß das schon, allerdings auch auf Einbildung beruhen könnte. Es gibt natürlich auch in diesem Roman wieder ein Tier, diesmal einen Kater, namens Chat (!), der durch die Handlung geistert.
Ein Vergnügen für Leser, die ernsthafte Literatur nicht mit dem Bierernst des Buch-Halters betrachten.

Clemens S. Setz: »Die Stunde zwischen Frau und Gitarre«, Roman, Berlin: Suhrkamp Verlag, 2015, 1021 S., 29,95 Euro


>> Steve Sem-Sandberg

Der schwedische Autor, ehemals ein renommierter Journalist, ist bei uns mit seinem wahrhaft großen Roman »Die Elenden von Lodz« bekannt geworden. Es ist die tragische Geschichte von Mordechai Chaim Rumkowski, des Vorsitzenden des Ältestenrats im Ghetto. Er hat mit den Nazis zusammengearbeitet, um so viele Menschen wie nur möglich zu retten. Gut ging es nicht aus, aber das Buch ist brillant geschrieben. Unfassbar und einmalig, wie es Sem-Sandberg geschafft hat, das Verstummen der Sprache im Angesicht des Entsetzens zu beschreiben. Einmalig, dachte ich, bis ich das neue Buch »Die Erwählten« las, das eben auf Deutsch erschienen ist. In der Wiener Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof werden geistig und körperlich Behinderte, Kinder mit »minderwertigem Erbgut«, auch Schwererziehbare gemartert und gequält, als pseudowissenschaftliche Versuchskaninchen behandelt und schließlich umgebracht. Sem-Sandberg erzählt die Geschichte dieses Heims, der Ärzte und Schwestern, und vor allem der Kinder. Es gibt, von einem Jungen abgesehen, der all diese Gräuel überlebt, weder Haupt- noch Nebenfiguren. Doch viele Geschichten, in denen die Geschichte einer der schrecklichsten Einrichtungen der Nazis erzählt wird. Wer den kleinen Felix bei seinem Klavierspielen erlebt hat, er benutzt nur die schwarzen Tasten und spielt unaufhörlich, tagein, tagaus, der wird dieses Kind sein Leben lang nicht wieder vergessen. Sem-Sandberg hat wieder ein großes, ergreifendes Buch geschrieben.

Steve Sem-Sandberg: »Die Erwählten«, Roman. Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek, Stuttgart: Verlag Klett-Cotta, 2015, 525 S., 26,95 Euro


>> Katharina Hacker

Es geht, durchaus, um die großen Fragen des Lebens, sogar darum, was das Leben eigentlich ist. Katharina Hacker, 2006 für ihre »Habenichtse« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, ist mit dem neuen Roman »Skip« wieder zu den Motiven ihrer Anfänge zurückgekehrt. Skip Landauer, in Paris aufgewachsen, nach Israel ausgewandert und schließlich in Berlin gelandet, Sohn eines Juden und einer Nichtjüdin, »halbauserwählt«, wie er es ironisch nennt, arbeitet als Architekt. Allerdings, nach dem Tod seiner Frau, kommt er spürbar aus dem Tritt, weil er auf einmal übernatürliche Fähigkeiten spürt. Er hört die Stimmen von Menschen, die plötzlich, sei es durch einen Terrorakt oder einen Unfall, aus dem Leben gerissen werden. Bis sie sich daran gewöhnt haben, tot zu sein, leistet er ihnen (unfreiwillig) Gesellschaft. Die formalen Experimente von Katharina Hackers früheren Büchern werden hier in die Handlung integriert. Seelenwanderung und Vaterschaft zum Beispiel, also wirklich die großen Fragen des Lebens.

Katharina Hacker: »Skip«. Roman, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2015, 384 S., 21,99 Euro


Alle sechs der hier genannten Bücher möchte ich nachdrücklich empfehlen. Von dem Nächsten möchte ich eher abraten:

>> Rüdiger Safranski

Der Mann, Philosoph und Fernsehstar (»Philosophisches Quartett«, zusammen mit Sloterdijk), ist als Biograph bekannt und zu Recht berühmt geworden. Seine Bücher über E.T.A. Hoffmann, Schopenhauer und Schiller, Goethe, Nietzsche und Heidegger gehören zu den Glanzstücken dieser Gattung. Er vermochte es, diese Figuren unserer Kulturgeschichte in die Gegenwart zurückzuholen, weil er, jeweils, im Besonderen das Allgemeine herausgearbeitet hat. Sein jüngstes Buch, »Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen«, leidet daran, dass er auf dem umgekehrten Weg regelrecht steckenbleibt: nämlich im Allgemeinen von dem er nicht loskommt. Das Buch ist eine Fundgrube für Zitat-Sucher. Einsichten bietet es kaum. Dafür viel von dem, was früher einmal »wohlfeile Kulturkritik« hieß. Schade. Safranski, unser bester Biograph, hat hier leider danebengegriffen.

Rüdiger Safranski: »Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen.« München: Hanser Verlag, 2015, 272 S., 24,90 Euro

Foto: © Buchmesse Frankfurt

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