Zoë Jennys Erzählungen »Spätestens morgen«

Zoe Jenny: Spätestens morgenErfrorene haben ein Lächeln auf den Lippen

Sie war ein »Fräuleinwunder«. »Der Spiegel« hatte seinerzeit diesen Markennamen geprägt.  Zoë Jenny, Judith Hermann, Karen Duve: Hübsche Mädchen, gute Bücher – ein Verkaufsschlager also. »Das Blütenstaubzimmer« von Zoë Jenny, ihr Debüt, wurde tatsächlich ein Riesenerfolg, in siebenundzwanzig Sprachen übersetzt. Zu Recht, denn die junge Schweizer Autorin hatte darin zum ersten Mal gezeigt, wie sie Trauer und Melancholie in Poesie übersetzen kann. Jetzt, in dem neuen Büchlein, zeigt sie es wieder.
Ein wenig erfolgreicher Theaterschriftsteller macht mit den beiden Kindern seiner Freundin einen Ausflug in einen Eissalon. Die Mutter ist eine fanatische Ökologin. Die synthetischen Lieblingssachen der Kinder hat sie weggeworfen, ›junk food‹ verbietet sie. Die arme Frau fühlt sich umzingelt von Giften. Bei Mike hingegen dürfen die Kinder »die Finger genüsslich in die Schokoladensauce« tauchen und »vor Fett  triefende Cheeseburger und Pommes verschlingen«. Ganz allmählich schimmern die Motive des ›Stiefvaters‹ durch. Mike hofft,  auf diese Weise die Zuneigung der Kinder zu erkaufen. Wahrscheinlich vergeblich. Yakoo, ein junger Mann aus Tokio, hat gegen den Willen seiner Eltern das Architekturstudium abgebrochen, weil er Musiker werden möchte. Sein Sehnsuchtsort ist Los Angeles. Seine Eltern werfen ihn aus der Wohnung. Sein Flug geht aber erst in vierzehn Tagen. Zwei Mädchen lassen ihn für diese Zeit in ihrer Badewanne schlafen. Natürlich hat er auch Angst vor dem, was ihn in Amerika erwartet. In Gedanken sieht er sich »gegen das Gelächter  anspielen und gegen die Einsamkeit, die sich immer mehr vor ihm ausbreitete, wie ein weites, blühendes Feld, auf dem die Pflanzen begannen, allmählich über seinen Kopf zu wuchern und alles Licht zu schlucken.« Am Tag der Abreise, die Mädchen sind zur Arbeit gegangen,  bläst er stundenlang in sein Saxophon. »Als das Parfum, das die Mädchen hinterlassen hatten, schon längst durch das geöffnete Fenster entwichen war, schickte er dem verlorenen Duft seine Klänge nach, in den Lärm der Stadt hinein.«  Das Flugzeug flog ohne ihn.
Die fünfjährige Aimée verliert ihre Eltern bei einem Autounfall. Bei ihrem Onkel, einem liebenswerten, aber arbeitslosen Trinker, darf sie drei Jahre bleiben, dann bringt sie der  amtlich bestellte Vormund zu einer Pflegemutter. Aimée aber sehnt sich zu ihrem Onkel zurück, sie leidet unter der »unerbittlichen Pflege«. Das Unglück der immer mehr abmagernden  Aimée gibt ihrer diabolischen Pflegemutter  wieder einen Sinn im Leben. Jetzt hat sie etwas zu tun: »Tropfen zählen, In-die-Sonne-Hinaustragen, das dauernde Nahrung-Hineinschütten kommt ihr zielgerichtet und einfach vor.«
Die zwölf Geschichten, innerhalb der letzten fünfzehn Jahre entstanden, oft nicht länger als vier, acht oder zehn Seiten, handeln alle von gescheiterten Lebensentwürfen, von nicht erfüllter Sehnsucht, Illusionen, Verzweiflung, Mord oder Selbstmord. Jennys Sprache ist knapp und nüchtern, sie geht sparsam mit den Worten um. Alle Erzählungen sind dunkel, abgründig, leicht melancholisch. Nirgends gibt es ein Happy End, und doch werden diese Geschichten von einer sanften Poesie durchleuchtet. Auch die »Ballade vom Rhein«. So heißt ihr Abschied von dem Schriftsteller Jürg Federspiel, der sich (vermutlich) selbst umgebracht hat und einmal zu ihr sagte, dass Erfrieren das Beste sei. Denn: »Erfrorene haben ein Lächeln auf den Lippen«.

Sigrid Lüdke-Haertel
Zoë Jenny: Spätestens morgen. Erzählungen. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 2013, 124 S., 17,90 €

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