Volker Hage: Die freie Liebe

Von Lübeck ins Lotterbett

Einer, der (sich) auszog, um das Leben zu lernen

Bei der FAZ hat er einst angefangen, als Jungredakteur im Literaturteil von Marcel Reich-Ranicki. Später ging er zur Zeit und wurde dort Literaturchef. Seit über zwei Jahrzehnten war er dann beim Spiegel für Literatur zuständig. Eine steile Karriere. Mehr geht eigentlich nicht. Es sei denn, man macht es wie Volker Hage und beginnt, nach der Pensionierung, ein zweites Leben – als Schriftsteller.
Sie treffen sich nach vierzig Jahren wieder, Andreas, ein mittlerweile berühmter Schauspieler, der es sogar zu einer Oscar-Nominierung gebracht hatte, und Wolf, der Ich-Erzähler, ein  Fernsehregisseur, der jetzt vor allem als Ausbilder arbeitet. »Vierzig Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Dabei gab es Berührungspunkte genug: dieselbe Branche, wenn auch nicht dieselbe Liga. Wir waren uns aus dem Weg gegangen. Oder es hatte sich nicht ergeben, was bisweilen dasselbe war.« Sie sprachen über alles Mögliche an diesem  Abend. »Nur über uns drei sprachen wir nicht.«
Zwei Monate nach diesem Treffen mit Andreas stirbt Wolfs Mutter in Lübeck. Bei den Aufräumarbeiten findet er seine alten Tagebuchaufzeichnungen wieder. Soweit der Prolog. Dann geht es los. Am 4. Mai 1971 beginnt in München das »Erste Buch«. Diese Eintragungen sind naturgemäß kurz, oft im Telegrammstil verfasst. Die Schwierigkeiten für den Provinzler, ein Zimmer zu finden. Der Preis des Mensa-Essens (1,10 DM). Nachrichtenfilmchen im Kino: »Fox-Tönende-Wochenschau«. Der junge Student, einundzwanzig Jahre alt, in jeder Hinsicht noch ziemlich unerfahren,  kommt schließlich, zum Schrecken seiner besorgten Mama, in einer Wohngemeinschaft unter: Ein Pärchen, eine Jurastudentin  und er. Lissa und Andreas praktizieren, wie damals nicht unüblich, die »freie Liebe«. Wolff profitiert davon. »Man stellt keine Besitzansprüche mehr.«  Man las Twen, eine Zeitschrift für hilfesuchende Teenager. Man verschlang den Kinsey-Report. Man gestand sich damals eine Freiheit zu, die allerdings viele, die sich diesem sozialen Zwang beugten, oft erheblich überforderte.  »Was hast du gesagt? Die Wahrheit. Ich sage ihm immer die Wahrheit (…) Du spinnst. Das darfst du einem Mann doch nie sagen, schon gar nicht, wenn du weiter mit ihm zusammenbleiben willst! Aber man darf doch nicht lügen.«
Wolf schreibt alles auf. Die Gespräche, die Gedanken, die Erlebnisse, vor allem die im Bett. Er hofft, das alles, später einmal, für einen Film verwenden zu können. Manche Szenen filmt er auch. Das Ganze geht natürlich auf Dauer nicht gut. Nach fünf Monaten kehrt Wolf erstmals nach Lübeck zurück. Dort erreicht ihn ein Brief von Lissa, sie habe Andreas geheiratet. »Er wird immer an meiner Seite stehen. Doch du bist und bleibst in meinem Herzen.» Wolf lernt daraus, dass auch die freie Liebe nicht das Gelbe vom Ei ist. Doch irgendwann, »Zweites Buch«, kehrt er nach München zurück. Und irgendwann beginnt das Drama aufs Neue.
Hage beschreibt in diesem schönen, kleinen Roman die private Seite eines gesellschaftlichen Aufbruchs. Die Befreiung, zumindest aus dem Mief der fünfziger und frühen sechziger Jahre, war weitgehend gelungen. Die von den radikalen Studenten erhoffte Revolution war allerdings ausgeblieben. Es hatte stattdessen eine Kulturrevolution stattgefunden und, die Pille hatte sich gerade erst durchgesetzt, diese sexuelle Revolution. Die Provinz war davon noch verschont geblieben. Die Jugendlichen aus Lübeck und Limburg schauten sehnsüchtig nach Berlin, München und Frankfurt. Das hatte Wolf irgendwie mitgekriegt. Deshalb war er nach München gegangen. Die theoretische Begleitmusik, Freud, Marcuse, Wilhelm Reich oder Günther Amendt war an ihm vorbeigegangen. Er versuchte, die damit einhergehende »Praxis«, wie es damals hieß, zu genießen. Doch irgendwann kommt auch Wolf zu der Einsicht, dass er ebenso wenig wie Andreas, mit dieser Geschichte zurechtkommt. »Sie tut uns beiden nicht gut.«
Hages Roman ruft längst vergangene Zeiten zurück. Heutige Studenten können hier erfahren, wie und was ihre Großeltern einst so getrieben haben. Oder, viel mehr noch, was sie gerne getrieben hätten.  Das Buch wirkt authentisch. Die Geschichte aus den Zeiten der »freien Liebe«, zeigt aber ebenso, wie sehr sich die Verhältnisse seitdem verändert haben.

Sigrid Lüdke-Haertel

Volker Hage: Die freie Liebe. Roman.
München: Luchterhand Verlag, 2015, 160 S., 16,99 €

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