Verfallsdatum (98)

Wir kennen ihn alle, diesen meist unscheinbaren Datumsstempel irgendwo auf dem Deckel, dem Boden, der Verschlusslasche eines Lebensmittelgebindes, der uns signalisiert, ab wann wir den Verzehr des Inhalts doch lieber einstellen sollten. Zwar sind die Angaben ziemlich vage, denn meistens heißt es »mindestens haltbar bis« und eigentlich nie »auf keinen Fall nach dem … noch verzehren«. Die ganz Vorsichtigen werfen die Vorräte dann schon mal lieber einen Tag vorher aus dem Kühl- oder Vorratsschrank, die Hasardeure, zu denen ich mich zähle, verlassen sich auf Geruch, Geschmack und Aussehen, um den tatsächlichen Verfallsprozess zu beurteilen. Selbst bei vielen Medikamenten soll der Datumsstempel eigentlich nur die Wirksamkeit des Inhaltstoffes bis zu diesem Zeitpunkt garantieren, danach könnte es zum Placebo geworden sein. Diese Erkenntnis hat dann wohl auch die Staatshenker des US-amerikanischen Bundesstaats Arkansas (in dem Bill Clinton mal Gouverneur war) bewogen, noch schnell vor Ablauf der Wirksamkeitsgarantie acht zum Tode Verurteilte mit den vom Verfall bedrohten Vergiftungschemikalien um die Ecke zu bringen. Frische Vorräte gibt’s ja nicht mehr, nachdem sich nicht nur europäische, sondern auch heimische Pharmakonzerne geweigert hatten, diese Chemikalien zum Zwecke des staatlich sanktionierten Mordens zur Verfügung zu stellen. Statt sich jetzt wieder auf althergebrachte Methoden des Um-die-Ecke-Bringens zu besinnen, wie Erschießen, Erhängen, Gaskammer oder elektrischer Stuhl, sollten unsere amerikanischen Freunde vielleicht mal wieder über die Abschaffung der Todesstrafe nachdenken. Denn, das sei noch mal eindringlich betont, so könnt ihr nie Mitglied in der Europäischen Union werden.

Womit wir nahezu nahtlos beim Obermufti Erdogan gelandet sind, der in seiner 51-Prozent-Diktatur nun die Überbelegung in den türkischen Knästen mit der Wiedereinführung der Todesstrafe mindern will. Dass dies von mehr als 400 000 mit türkischem Pass in Deutschland Lebenden bewusst oder unbewusst durch ihre Wahl beim Verfassungsreferendum unterstützt wurde, hat den Integrationskommentatoren unserer Republik große Fragezeichen zwischen die Sorgenfalten auf ihre Stirn geschrieben. Was nur haben wir falsch gemacht, was haben wir in unseren Bemühungen versäumt? Wenn ich sehe, wie hier einem starken Führer gehuldigt worden ist, dann war das von denen auch eine klare Absage an alle gutgemeinten Integrationsversuche. Könnte es nicht sein, dass ein entschiedenes, massives Eintreten für türkischstämmige Deutsche, die in der Türkei unrechtmäßig an der Ausreise gehindert werden oder in Knästen inhaftiert sind, nicht nur uns, sondern auch jenen Erdogan-Wählern Respekt abgerungen hätte, die die Rechtsstaatlichkeit unseres Systems nur allzu oft mit Weichheit gleichsetzen.

So ist denn auch jenes Kopftuchurteil des Frankfurter Verwaltungsgerichts, das Rechtsreferendarinnen (was ist eigentlich mit den Rechtsreferendaren?) das Tragen von Kopftüchern auch bei der Ausübung hoheitlicher Aufgaben (Sitzungsvertretung, Anklagevertretung) erlaubt, juristisch sicherlich einwandfrei, gesellschaftlich aber eher kontraproduktiv. Denn es wird weniger als Sieg des Rechtsstaats als vielmehr als Sieg ÜBER den Rechtsstaat wahrgenommen. Ich versuche mir nur vorzustellen, wie ein strenggläubiger Muslim auf einen sitzungsleitenden Referendar mit jüdischer Kippa oder eine Referendarin der Staatsanwaltschaft mit großem umgehängten, christlichen Kreuz reagiert. Wenn es denn doch nur ein Frage der Religion wäre …

Jochen Vielhauer

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