Verena Lueken: »Alles zählt«

Verena Lueken, © Isolde OhlbaumIch bin hier

Seit langen Jahren arbeitet Verena Lueken, die vor allem als Filmkritikerin bekannt geworden ist, im Feuilleton der FAZ. Viele Jahre davon hat sie als Kulturkorrespondentin aus New York berichtet. Sie hat »Kinoerzählungen« geschrieben, auch eine »Gebrauchsanweisung für New York«, und jetzt – ihren ersten Roman: »Alles zählt«.

In letzter Zeit haben erstaunlich viele Kritiker die Seiten gewechselt und sich erzählend der Öffentlichkeit  präsentiert. Mit unterschiedlichem Erfolg. Der Roman Verena Luekens, obwohl autobiographisch geprägt, ist aber tatsächlich ein starkes Stück Literatur, keine Krankengeschichte. Drei Teile, die auch motivisch ineinander verflochten sind: der Krebs, das Überleben, das Leben.
»Sie«, die im Buch keinen Namen erhält, kehrt für einige Monate nach New York zurück, der Stadt, in der sie jahrelang gelebt und gearbeitet hatte und wo sie sich »einigermaßen sicher fühlte«. Sie will »ihr Leben überdenken«, an etwas Neuem arbeiten und viel lesen. Nach kurzer Zeit erfährt sie, dass sie, wie schon einmal vor 15 Jahren, wieder an Lungenkrebs leidet. Der Satz des Schriftstellers James Salter, den sie gerade gelesen hatte, »New York im Sommer. Beißendes Licht, brütende Hitze, eine erbärmliche Zeit um zu sterben«, lässt sie nicht mehr los. Aber sie hat Glück, eine der besten Chirurginnen, »eine kleine, drahtige Frau mit eisernen Händen« operiert sie, erfolgreich. Nur die Schmerzen danach sind höllisch, die starken Schmerzmittel rauben ihr den Verstand. In ihrem Delirium erscheint ihr der Vater. Früh gestorben, »hatte er ihr nichts hinterlassen außer einer großen Leere… und einer Sehnsucht, die in diesem Leben nicht zu stillen war.«
Doch die wichtigste Rolle in ihrem Leben spielt ihre Mutter, die allerdings jahrelang ein Doppelleben führte. Das kleine Kind konnte sich nie sicher fühlen, immer blieb die Angst, dass die Mutter sie mit ihrem Geliebten verlassen könnte. Die Mutter konnte auch grausam sein. Drei Wochen lang sprach sie nicht mit dem 12-jährigen Mädchen. Einmal versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Heile Welt sieht anders aus. Das Verhalten der Mutter und dementsprechend das Leiden des Kindes sind beeindruckend beschrieben. Die Mutter, wenn auch hoch kompliziert, doch immer innig geliebt, bleibt noch weit über ihren Tod hinaus, sie wird über neunzig Jahre alt, eine dominierende Gestalt. Selbst den Abschied von der Tochter hat sie bis in die Einzelheiten hinein inszeniert, so »wie sie wollte, dass ihre Tochter sich daran erinnerte«. Aber die Tochter ist stolz auf diese weitgereiste, gebildete Frau, die noch mit Ende achtzig, begleitet von einem wesentlich jüngeren Freund, bis nach Syrien reist. Diese Erinnerungen fließen ein in die Krankengeschichte, die dann, zurück in Frankfurt, in den Kampf ums Überleben übergeht. Einen großen Teil der Zeit sitzt sie im Drogendämmer herum, die »schneidenden, bohrenden, drückenden, kreischenden, hämmernden, zischenden, brüllenden« Schmerzen verändern sie. Ohne Larmoyanz, ganz sachlich beschreibt sie die fürchterlichsten Phasen ihres (Über-)Lebens. Sie spürt, wie sie sich zu verlieren droht, sagt »Dinge, die sie sich nie wieder verzieh … und sie verletzte Menschen, die ihr am nächsten standen«. Doch dann kam irgendwann der Tag, an dem sie spürte, es war vorbei. Sie war nicht tot. Gefragt, wie es ihr gehe, sagte sie nur: »Ich bin hier«. Deshalb fliegt sie schließlich nach Myanmar. Eine Sehnsuchtsreise, romantisch und diffus zugleich. Wo andere einst die blaue Blume suchten, da sucht sie jetzt nach einem Masseur: Vor allem eines Wortes willen. Der kleine Mann hatte sie, zwei Jahre zuvor, einmal regelrecht »umgehauen«, weil er zu ihr sagte: »You are kind«. Es wirkte wie ein Zauberwort. Und weckte ihren Lebensgeist. Sie trifft den Mann nicht wieder. Doch in einem Krankenhaus, in dem sie sich ihren verstauchten Knöchel behandeln lässt, trifft sie einen Arzt, dem sie spontan vertraut. »Ihr gefiel die Idee, sich in dieser unwirklichen Umgebung mit einem Unbekannten einzulassen,  den sie traf, während sie einen anderen suchte.« Den Tod hat sie hinter sich gelassen. Vor ihr liegt das Leben.

Sigrid Lüdke-Haertel
Bild: Verena Lueken, © Isolde Ohlbaum
Verena Lueken: »Alles zählt«.
Roman.
Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2015, 208 Seiten, 18,99 Euro

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