Uwe Nettelbecks »Der Dolomitenkrieg«

Kain und Abel in der Steilwand

Kaiserjägertod: Wie hoch schätzen Sie die voraussichtlichen Verluste?

Der Kommandant: 4000.

Kaiserjägertod: Die Truppen sind befehlsgemäß zu opfern.

(Karl Kraus: »Die letzten Tage der Menschheit« S. 450)

Schön, wie manche Bücher ein Eigenleben entfalten und immer gehaltvoller werden. So verhält es sich mit Uwe Nettelbecks dokumentarischem Montageroman »Der Dolomitenkrieg«, einem eisigen Stück Prosa, 1976 erstmals innerhalb des Sammelbandes »Mainz bleibt Mainz« erschienen, einem Vorläufer und sozusagen umfangreichen Prospekt der dort auf der letzten Seite angekündigten Nettelbeck-Zeitschrift »Die Republik«, ein an »Die Fackel« von Karl Kraus erinnerndes Geisterreiter- und Außenseiterprojekt, das es bis 2007 auf 125 Nummern brachte. 1979 erschien »Der Dolomitenkrieg« auf lachsfarbenem Papier bei Zweitausendeins/Greno als schmales Taschenbuch. Nun hat ihn der kleine und exquisite Berenberg-Verlag mit sorgfältiger Ausstattung in den Hardcover-Himmel geholt, den 95-seitigen Fließtext der an Raubdrucke erinnernden und ohne jeden Absatz auskommenden Erstausgabe – die Gliederungen von I,1 bis XXXV,14 befanden sich im Textverlauf – mit Leerzeilen aufgebrochen und mit einem Nachwort des Frankfurter Soziologen, Publizisten und Adorno-Biografen Detlev Claussen ergänzt. Ein Ausnahme-Buch in mehrerlei Hinsicht, in der jetzigen Form zum langen Aufbewahren geeignet und bestimmt.

Detlev Claussen widmet sein Nachwort einem leider 2008 zu früh verstorbenen anderen Frankfurter, nämlich dem Tausendsassa und frühen Umweltpropagandisten Giovanni »Hans« Glauber, der ihn »lehrte, sehenden Auges durch die Dolomiten zu laufen«. Hans Glauber stammte wie der unlängst von uns gegangene Independent-Filmproduzent Karl »Baumi« Baumgartner aus Südtirol, beide wussten sie mehr als andere von einem Kriegsschauplatz von vor nun 100 Jahren, der auf kleinem Raum all das fokussiert, was die Hirnrissigkeit jeglichen Krieges ausmacht.

Vieles von dem zum Beispiel, was wir über Gletscher wissen, wurde 1916/17 im mächtigen Eisgebirge der Marmolata in blutigster Versuchsanordnung gesammelt. Wegen des Artilleriefeuers der italienischen Alpini verlegten die österreichischen Landesschützen ihre Stollen und Stellungen tief ins Eis, das Wissen um die Natur des Gletschers wurde zu einer Überlebensfrage. Bei 39 Grad Celsius gefriert menschliches Blut. Auf Seite 23 f. finden sich schwer erträgliche Betrachtungen über das Erfrieren (congelatio).

Den Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges gab es nicht nur auf den Trichterfeldern Flanderns, sondern auch in der Senkrechten, mitten im Gebirge. Gekämpft wurde am und im Berg, Stollen untergruben Stollen, teils waren sie 500–1.000 m lang. Von 1915–1918 gingen sich die Gebirgstruppen Italiens und Österreich-Ungarns in den Steilwänden der Dolomiten buchstäblich an die Kehle. Wie bei Kain und Abel war es oft ein Felsbrocken, mit dem man im Nahkampf am Berg den Gegner erschlug. Der Berenberg-Ausgabe vorangestellt ist ein dem Buch entnommenes Zitat des Alpen-Sonnyboys und Filmregisseurs Luis Trenker, in dem er begeistert die Ausgabe von (mittelalterlichen) Morgensternen an die Kämpfer beschreibt.

Von der Schweizer Grenze bis zum Abfall der Alpen in die lombardische Tiefebene bildeten die Kampflinien eine fast 100 km lange, geschlossene Eisfront, die fast durchwegs in Höhen von über 3.000 m verlief und deren tiefste Punkte wie etwa der Tonale-Pass immer noch auf 1.900 m Höhe lagen. Die Sextner Dolomiten gehörten zu den am meist umkämpften und blutigsten Frontgebieten des Kaiserreiches Österreich-Ungarn, der Katastrophenwinter 1916/17 trug das Seine dazu bei. So forderte zum Beispiel im Dezember 1916 eine gewaltige Lawine an der Punta di Penia, die ein österreichisches Lager niederwalzte, alleine 300 Tote.

Viele Aspekte benennt Detlev Claussen in seinem vielschichtigen, mit 37 Anmerkungen versehenen Nachwort. Die Quellenlage Nettelbecks aber lässt er leider außer acht. Etwa warum bei dem bekennenden Karl-Kraus-Verehrer weder der Meister selbst noch die Kriegsreporterin Alice Schalek namentlich wie inhaltlich vorkommen. Kraus rieb sich in seiner »Fackel« immer wieder an den Dolomiten-Frontberichten der 1917 vom Kaiser mit dem »Goldenen Verdienstkreuz mit Krone am Band der Tapferkeitsmedaille« ausgezeichneten Journalistin derart, dass sein »Kampf gegen die Phrase« und gegen den Militarismus auf immer Bestand haben wird.

Zu Uwe Nettelbeck lohnt es sich, im Internet zu lesen. Ich wünsche spannende Lektüre – und steige nun in ein weiteres Kleinjuwel des Berenberg Verlages, nämlich Gian Carlo Fuscos »Die Unerwünschten. Als Amerika die Mafia nach Hause schickte«. Der bei uns schmählich unbekannte Fusco, ein Chronist Italiens, porträtiert in diesem ganz und gar ungewöhnlichen Mafia-Buch eine Galerie von nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die alte Heimat deportierten amerikanischen Gangstern. Eine fröstelnd-beklemmende Lektüre, die – dies Empfehlung Nummer drei – gewiss auch Ingrid Mylo und Felix Hofmann gefällt, die gerade die zweite Nummer ihrer Zeitschrift »Anarchron« im Selbstverlag herausgebracht haben. Ganz und gar unabhängig schreiben hier zwei freie Geister, sagen, was andere nicht mehr zu denken wagen. Bezug über anachron@micromegas.de

 

Uwe Nettelbeck:
Der Dolomitenkrieg.
Mit einem Nachwort von Detlev Claussen
Berenberg Verlag, Berlin 2014. Halbleinen, 152 Seiten, 20 €.
Gian Carlo Fusco:
Die Unerwünschten. Als Amerika die Mafia nach Hause schickte.
Mit einem Vorwort von Andrea Camilleri.
Berenberg Verlag, Berlin 2014. Halbleinen, 152 Seiten, 20 €.
Felix Hofman, Ingrid Mylo:
Anachron. Nr. 2
Micromégas, Kassel 2014. 64 Seiten, 15 €.

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