Theater: Freies Schauspiel Ensemble
»Tschernobyl« im 30. Jahr

Kritisch wie ehedem

»Staatsknete Nein Danke« und »Nie wieder Stadttheater« – das sind Parolen, die bei seinem Start 1984 auch das Freie Schauspiel Ensemble (FSE) und sein Mitgründer und heutiger Prinzipal Reinhard Hinzpeter skandiert haben dürften. Auch wenn die Sache mit den öffentlichen Geldern heute differenzierter betrachtet wird, so gilt das Credo eines sich vom herrschenden Kulturbetrieb absetzenden politischen Theaters ungebrochen. Seit das Ensemble mit dem Titania wieder eine feste Spielstätte hat, gilt das sogar verstärkt. In der Frankfurter Theaterszene ist es fast ein Alleinstellungsmerkmal: Themen von hoher Relevanz für die Stadt aufzugreifen. Mit dem grassierenden Lokalbezugs-Tralala der Staats- und Stadtbühnen, das eher Legitimationsnöten folgt, hat das gewiss nichts zu tun.  »Wir wollen aufrütteln und damit einen Gegenpunkt zur zeitläufigen Praxis des Niederquatschens von Inhalten setzen«, sagt Hinzpeter.
Jüngste Produktion ist das auf Interviews mit Zeitzeugen und Betroffenen basierende dokumentarische »Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft« von Swetlana Alexijewitsch, das die Nuklearkatastrophe von 1986 wachruft, um sie dem Vergessen zu entreißen.
In mitreißenden szenischen Bildern bringt das FSE die Folgen des Reaktorunglücks für die Menschen auf die Bühne. Da sind von der Schönheit der Explosion überraschte Anwohner, völlig verdutzte und ungläubig überraschte Wissenschaftler und neugierige Jugendliche, die mit dem Fahrrad zum Unglücksort sausen. Da sind die einsatzbereiten Feuerwehrleute, die sofort im Krankenhaus landen, da ist die Ehefrau, die trotz Verbot ihren dahinsiechenden Mann besucht und sich selbst kontaminiert. Bettina Kaminski gibt diese unglaubliche sture, stolze, liebende und zu Tränen rührende Frau und bereitet dabei schälend und kochend eine Kartoffelsuppe zu, die sie später mit einer Art Landkommune im Sperrgebiet verzehrt. Mit Menschen, die sich entschlossen haben, ihre letzten Tage autonom zu verbringen. Es gibt auch die Verschweiger und Verheimlicher, naive Kameraleute, heroische Einsatzkommandos, die Heere von Helden aus der ganzen Sowjetunion, und es kommen Jäger, denen es um manches Tier leid ist, das sie erschießen müssen.
In dichten Szenen, die  am stärksten wirken, wenn eine Gruppe der Protagonisten chorisch und choreographisch auftritt – und im Dunkel wieder verschwindet, geben neben Kaminski Michaela Conrad, Naja Marie Domsel, Hans Peter Schupp und – ein Zugewinn – Corbinian Deller in einer dokumentarischen Bühnenkulisse, die man rund vor und nach der Vorstellung, wie in der Pause anschauen kann, all diesen Figuren eindringlich Gestalt. Der Bericht vom Sekundeneinsatz der Räumkommandos auf dem Bitumendach des Atommeilers wird mit Filmausschnitten dokumentiert. Sehr lang, fast ein wenig zu lang, ist der so ansprechende wie beanspruchende Abend, der ein hohes Maß an Aufmerksamkeit verdient und verlangt.
Wie zu allen relevanten Aufführungen organisiert das FSE auch zu Tschernobyl Foren und Diskussionspodien mit Experten und politisch Verantwortlichen, soweit die sich trauen. Am 9. November steht im Anschluss an die Vorstellung das heikle Thema Katastrophenschutz mit der Frage, welche Lehren man in Deutschland aus Tschernobyl gezogen hat, auf dem Plan.

Katrin Swoboda
Termine: 8., 14., 15. November, 20 Uhr, 9. Nov. (Podiumsdiskussion), 17 Uhr

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