Staatstheater Wiesbaden: Manfred Karge inszeniert die Antigone nach Brecht

Die Unschuld eingemauert

Breitbeinig sitzt sie im weißen Kleid auf dem Boden, die schmutzigen Fußsohlen dem Publikum trotzig entgegenstreckend, und verschlingt schmatzend ihre letzte Mahlzeit. Antigone scheint keine Furcht vor dem Tod zu kennen: Sie geht, auch wenn ihre Stimme bei ihrem Abschied an Theben ein wenig zittert, stolz und aufrecht in ihr steinernes Grab.
Eine der größten literarischen Frauenfiguren der Antike wird von Regisseur Manfred Karge im Wiesbadener Staatstheater auf die Bühne gebracht. Als Vorlage dient dem fast 80 Jahre alten Regisseur die Fassung Bertolt Brechts, die dieser 1948 nach seiner Rückkehr aus dem Exil geschrieben und mit Helene Weigel in der Titelrolle inszeniert hatte. Karge, den Weigel 1961 an die Brechtbühne BE (Berliner Ensemble) holte, und der dort noch bis vor Kurzem inszenierte, hat diese Version nochmals abgewandelt: Viele Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg wurden herausgenommen und der Fokus mehr auf den zentralen Konflikt zwischen dem König Thebens und Antigone gerichtet. Übernommen hat er von Brecht, dass Kreon ein von Macht besessener Kriegstreiber ist. Das Satyrspiel aber, mit dem der Königssohn Hämon seinem Vater frei nach Hamlet den Spiegel vorhält, stammt aus Karges Feder.
Die Handlung ist schnell erzählt: Kreon verbietet die Bestattung des zum Staatsfeind erklärten Polyneikes und stößt damit bei dessen Schwester Antigone auf größten Widerstand. Sie vollführt das verbotene Ritual. Während sie sich bei Sophokles dem Verdikt unter Berufung auf das Recht der Götter verweigert, trotzt sie diesem bei Brecht aus Humanität. Das Ergebnis bleibt dasselbe: Kreon lässt sie lebendig einmauern – und treibt damit sogar seinen eigenen Sohn, Antigones Verlobten Hämon, in den Tod.
In strenger, brechtscher noch als Brecht gefasster Stilisierung vertreten die Protagonisten ihren Standpunkt. Llewellyn Reichman als Antigone braucht dazu wenig Sprache und Gestik, erhält von Karge, der sich sehr viel mehr um ihren Widerpart kümmert, aber auch erstaunlich wenig Raum: Dabei wirkt sie, wenn sie Kreon mit starrem Blick »Zum Hassen nicht, zur Liebe leb‘ ich« verkündet, fast zu kontrolliert. Trotz der großen Bühnenpräsenz, die der schauspielende Intendant des Hauses, Uwe Eric Laufenberg, dem störrischen Machthaber verleiht, kommt er gegen Reichmans Unbeugsame nicht an. In seinem Wahn sieht er die Welt so schwarz-weiß, wie das Bühnenbild von Gisbert Jäkel gestaltet ist: ein weißes Rondell mit Schiebetürelementen auf einem von schwarzer Asche bedeckten Boden. Kreon kennt nur Freund und Feind, Staatsordnung und Staatsverrat. In seinem Starrsinn lässt er sich weder von der bissigen Kritik des Sohnes (Maximilian Pulst) noch vom Unheil prophezeienden Seher Theresias (Rainer Kühn), noch gar vom mahnenden Ältestenrat beeindrucken – und wird dadurch in fataler Weise so aktuell wie sein leuchtendes Gegenbild als Ikone des Widerstands gegen Gewalt.
»Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch«, heißt es bei Sophokles. Dass aber nicht mehr die Götter alles menschliche Unglück verantworten, wird an diesem Theaterabend eindrücklich demonstriert.

Verena Rumpf (Foto: © Karl Monika Forster)
Termine: 28., 29. März, jeweils 19.30 Uhr.
www.staatstheater-wiesbaden.de

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