Staatstheater Mainz zeigt Dürrenmatts »Die Physiker«

Unheil im Sanatorium

Die Bombe ist uns (wieder) fühlbar auf die Pelle und aufs Gemüt gerückt in den vergangenen Monaten. Ohne dass es eines Zugriffs bedürfte, verleiht diese Gemengelage Friedrich Dürrenmatts Bühnenfarce »Die Physiker«, die 1962 in der heißesten Phase des Kalten Krieges entstand, Brisanz und Aktualität. Die Mainzer Inszenierung von K.D. Schmidt nimmt auf diese Stimmung deutlich Bezug, indem sie mit einer Version des Doors-Songs »The End« eröffnet, für die man die drei Hexen aus Macbeth verpflichtet zu haben scheint. Der zynische Vortrag des spitzzüngigen Trios, das wir bald in den Krankenschwestern des Sanatoriums wieder finden, nimmt uns von Beginn an jede Illusion, es könne gut ausgehen mit dieser Geschichte.
Nichts geht mehr. Was der Mensch einmal erdacht hat, lässt sich nicht mehr zurückdenken, so lautet die Conclusio des in 100 pausenlosen Minuten flott und bunt servierten Fall des Physikers Johann Wilhelm Möbius. Der bemerkt die apokalyptische Dimension seiner Entdeckung der »Weltformel« zu spät und flieht deshalb mit seinem unheilvollen Wissen in die Klapse als vermeintlich sicheren Ort. Dort erklärt Möbius, seine Erkenntnisse von König Salomon persönlich im morgendlichen Gespräch diktiert zu bekommen, ahnt aber nicht, dass auch die Mitinsassen Newton und Einstein nur simulierende Kollegen sind, die im Auftrag verfeindeter Geheimdienste die Weltformel jagen. Selbst dass die Oberärztin Fräulein von Zahnd ganz nonchalant ihre Patienten schützt, als diese aus Angst vor Enttarnung ihre Pflegerinnen ermorden, weckt keinen Verdacht. Der ermittelnde Kriminalinspektor Voß jedenfalls kapituliert nach zwei vergeblichen Anläufen vor der Realität, die er hier antrifft, und nimmt den dritten Mord nur noch mit Humor.
Drei in transparentem Hellrot gekleidete Stelzenhäuser, die nur über Leitern zu erreichen sind,  bilden die Unterkünfte der Physiker, zu deren Füßen uns der Kommissar auf seinen fruchtlosen Ermittlungen mit dem Personal vertraut macht: der Ärztin, den Schwestern, den Patienten inklusive eines kleinen Adolfs, der hier seinen Trieb mit dem Staubsauger ausleben darf. Was im ganz normalen Irrenalltag als Krimi-Groteske mit einem Trenchcoat-Kommissar unter schrägen Irren beginnt, gewinnt unter der Hand dramatische Gestalt, wozu selbst der absurde Auftritt von Möbius Ex-Frau mit ihrem neuen Gatten, dem Missionar Rose, beiträgt. Die skurrilste aller Szenen, von Anne Steffens und Lorenz Klee brillant gespielt, legt die Tragik des Wissenschaftlers offen, den Clemens Dönicke in der Hauptrolle frappierend realistisch und einfühlsam gibt. Im Disput mit der ihn durchschauenden und liebenden Schwester Monika (Gesa Geue) folgt man ihm mit größtem Verständnis.
Ein paar Sekunden lang sieht es in Mainz danach aus, als (er)sparte K.D. Schmidt dem Publikum die frustrierende Schlusspointe Dürrenmatts um die machtgierige von Zahnd (Monika Dortschy). Doch dreht er die Irrenhausspirale einfach weiter, indem er die gesamte Theaterwelt aus den Fesseln hebt. Das Publikum ist damit sehr einverstanden.

Winnie Geipert (Foto: ©  Bettina Müller)
Termine: 4., 8., 11., 15., 16., 21., 22. März, jeweils 19.30 Uhr
www.staatstheater-mainz.de

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