»Simpel« von Markus Gollen

Seines Bruders Hüter

Dass er sich um seinen jüngeren Bruder kümmern müsse, dürfte Ben schon früh gehört haben. Zumal Barnabass bei seiner Geburt mit Sauerstoffmangel zu kämpfen hatte und von da an ein sonniges Gemüt besitzt und eckige Bewegungsabläufe. Barnabass ist also zu einem Pflegefall mit dem wohlwollenden Spitznamen Simpel geworden und für Ben zu dessen Lebensaufgabe.

Ein bisschen denkt man an Johnny Depp alias Gilbert Grape und an seinen behinderten kleinen Bruder Arnie, den Leonardo DiCaprio in seinem besten Filmauftritt gab. Im Vergleich zu ihnen halten sich David Kross als Simpel und Frederick Lau als seines Bruders Hüter beachtlich, zumal Lau noch von »Victoria« als dumm daherschwätzender Gernegroß in Erinnerung ist. Ganz anders, nämlich einfühlsam und zurückhaltend, ist er hier.
Markus Goller, der Regisseur und Co-Autor (mit Dirk Ahner), hat bei dieser sehr freien Verfilmung des Romans von Marie-Aude Murail die Handlung nach Norddeutschland verlegt und erzählt die komplexe Beziehung zwischen den beiden Brüdern als Roadmovie. Nach dem Tod der schwerkranken Mutter – auch um sie hat sich Ben gekümmert – soll Simpel nämlich in ein Pflegeheim. Denn seine Betreuung scheint Ben auf Dauer zu überfordern, und der Dorfpolizist ist auch nicht mehr gewillt, Simpel von seinen gefährlichen Ausflügen in die See und anderen Kapriolen abzuhalten.
Als Simpel schließlich von der Fürsorge abgeholt werden soll, kapert Ben kurzerhand das Auto samt seinem Bruder. Ihre Flucht gerät zu einem mal anrührenden, mal heiteren Abenteuer, weil Simpel mit seiner Naivität eben auch liebenswert ist. Wie seinerzeit DiCaprio ist jetzt auch David Kross (»Der Vorleser«) eine Entdeckung. Sein Simpel sprüht vor Lebensfreude. Auf die Rolle hat sich Kross mit Studien von Behinderten vorbereitet, und die Kopie ist ihm grandios gelungen.
Erstaunlich bleibt aber, wie tief der Film trotz seiner ansprechenden und auch etwas konventionellen Form das Thema Verantwortung und Fürsorge für einen pflegebedürftigen Angehörigen auslotet. Denn für Ben ist die Sorge um seinen Bruder zur Obsession geworden. Ein Leben ohne Simpel kann er sich nicht vorstellen. Unnütz zu fragen, wer von wem abhängiger ist.
Der Vater der beiden (Devid Striesow) hat sie früh verlassen und eine neue Familie gegründet. Ihn sucht Ben, und als er ihn gefunden hat, erscheint er ihm trotz aller Erklärungen und Entschuldigungen als herzloser Karrierist, weil er die Heimeinweisung veranlasst hat. Als wäre Simpels geistige Behinderung ansteckend, will der Vater ihm partout aus dem Weg gehen. Und so wird die Konfrontation mit dem behinderten Sohn inmitten einer großbürgerlichen Feier ein dramatischer Höhepunkt, der dem arglosen Simpel allerdings besser erspart geblieben wäre.
Der von Markus Goller schwungvoll inszenierte Film lebt von zwei starken Figuren, aber auch von den anderen Personen. Manchmal wundert man sich, dass Stofftier Hasehase oder Simpels kleiner Rucksack nicht schon längst verloren gegangen sind, doch das sind Kleinigkeiten. Denn letzten Endes ist der Film eine Hymne auf das Mitgefühl.

Claus Wecker
SIMPEL
von Markus Goller, D 2017, 113 Min.
mit David Kross, Frederick Lau, Emilia Schüle, Devid Striesow, Axel Stein
nach Roman, vonMarie-Aude Murail
Drama / Start: 09.11.2017

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