Silke Scheuermanns neuer Roman: »Wovon wir lebten«

Sie lässt es krachen

Sie lebt seit einigen Jahren in Offenbach, aus, wie sie sagt, Kostengründen. Sie ist als Lyrikerin bekannt geworden, hat aber auch Erzählungen und Romane geschrieben und jetzt einen richtigen Brummer vorgelegt, 525 Seiten lang. Da geht es heftig zur Sache und auch hoch her.

Marten, 12 Jahre alt, hat viele Worte für seinen »Arschlochvater«: Scheißkerl, Drecksack, Flachwichser, Miesmacher, Angeber. Die schwache Mutter ist oft betrunken und sagt zu ihrem Sohn: »Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte.« Denn Marten kümmert sich um seine fünfjährige Schwester Nicole. Er kauft ein, kocht und manchmal, wenn seine Mutter lallend in einem Gebüsch liegt, schleppt er sie auch nach Hause. Also gute Voraussetzungen, um auf die schiefe Bahn zu geraten. Sein Start in ein Leben mit Gewalt, Sex, Drogen und Dealern beginnt mit einer makabren Szene. Der Vater erlaubt Nicole sich in einer Tierhandlung drei Kaninchen auszusuchen.  Als Marten eins auf den Arm nimmt, streichelt er es erst, und »beim Streicheln drücke ich am Hals etwas zu … nur um zu spüren, ob es quiekt … Dann drücke ich fester zu … Auf einmal ist es tot, und keiner hat etwas gemerkt.« Er legt es zu den beiden anderen in den Käfig zurück. »Ich triumphiere innerlich. Zum ersten Mal habe ich meinen Vater ausgetrickst. Zum ersten Mal habe ich gewonnen.«  Martens Karriere als Drogenkonsument beginnt bescheiden. Mit seinem Freund Mischa schnüffelt er an einem Leimtopf – und wundert sich, wie benebelt man davon werden kann. Durch seinen Boxtrainer Rainer erhält er kleine Aufträge als Drogenbote. Als Rainers Wohnung von Polizisten überprüft wird, schafft es Marten, in seinem Sportbeutel 1½ Kilo Kokain an ihnen vorbei zu schleusen. Rainer macht sich allerdings mit dem Kokain aus dem Staub. Zehn Jahre hört er nichts mehr von ihm.
Silke Scheuermann beschreibt Martens Entwicklung, das heißt seine ständig zunehmende Verrohung. Seine Beziehungen zu Mädchen sind ausschließlich geprägt durch Sex. Er will »kein Riesengelaber, kein mühsames Kennenlernen.« Manchmal staunt er selbst: »Gerade noch kennt man sich nicht, und dann stecke ich in ihr drin.« In seinem Milieu werden Konkurrenten einfach zusammengeschlagen, da wird nicht lange gefackelt. »Einen Denkzettel wollte ich ihm verpassen, ein paar Prellungen, ein hübsches Veilchen, ein paar Blutergüsse, vielleicht ein, zwei geprellte Rippen, mehr nicht.« Doch wie im Rausch schlägt er weiter. »Erst als ich seinen Kieferknochen brechen höre, halte ich inne.« Er kokst, um high zu werden, durchzuhalten. Er pumpt sich mit Tabletten voll, um am Morgen wieder fit zu werden. Um nicht im Knast zu landen, begibt er sich in eine Entzugsklinik. Hier trifft er Stella wieder, ein Mädchen, dessen Eltern angeblich bei einem Unfall ums Leben gekommen waren. Sie lebt bei einer reichen Tante. Marten hatte sich als zwölfjähriger heftig in sie verliebt, damals ignorierte sie ihn. In der Reha ist sie wegen ihrer Magersucht. Dieser Aufenthalt markiert für Marten einen Wendepunkt. Er denkt darüber nach, was in seinem Leben eigentlich schief gelaufen ist. Nach der langen Talfahrt geht es plötzlich steil bergauf. Zusammen mit zwei Bekannten, er wird der Koch sein, eröffnet er, wenn schon, denn schon, ein Gourmetrestaurant, nach dem Motto: »Guter Junge aus bösem Milieu kommt in der Frankfurter Gourmet-Szene an.«  Aber genau das nimmt man der Autorin nicht so recht ab.
Diese Entwicklung wird nicht dargestellt, sondern nur behauptet. Hier hätte ein Lektor gutgetan. Nicht nur die Karriere des drogenabhängigen Boxers Marten gleich zum Gourmetkoch erscheint schlicht unglaubhaft. Die überbordende Handlung dementiert die Einsichten, auf die sich der Roman berufen will: »Wo wir verletzt und vernarbt sind, da zeigt sich unsere wahre Identität. Daran sieht man, was uns geprägt und zu dem Menschen gemacht hat, der man ist.« Schön wäre es, wenn es so wäre. Schade. Denn viel hat nicht gefehlt, und Silke Scheuermann wäre nicht nur ein dickes Buch, sondern auch ein großer Roman gelungen.

Sigrid Lüdke-Haertel
Silke Scheuermann: »Wovon wir lebten«, Roman.
Frankfurt am Main: Verlag Schöffling & Co., 2016, 528 Seiten, 24 €.

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