Schlussbericht von der 63. Berlinale

Wer früh kommt, gewinnt

 

In den letzten Jahren galt: Den Goldenen Bären gewinnt ein Film, der morgens um neun Uhr in der Pressevorstellung läuft. Diesmal waren die Journalisten noch mehr gefordert. Denn es gewann mit dem rumänischen Drama »Child’s Pose« (Pozitia copilului) der einzige Film, der schon um 8.30 Uhr gestartet wurde, noch dazu am Montag. Ein Horrortermin, vor allem, weil es am Sonntagabend nicht nur Spätvorstellungen, sondern auch einige Feiern gab. Wir müssen gestehen, dass wir nicht zum harten Kern der Kritikerschar gehören und deshalb den Preisträger nicht gesehen haben.

Folgt man dem Urteil der Kollegen, so geht die Entscheidung in Ordnung. Man sollte jedoch bereit sein, eine Wackelkamera mit vielen Nahaufnahmen zu akzeptieren. Dass eine Mutter ihren erwachsenen Sohn nicht loslassen kann, kommt wohl nicht nur in Rumänien vor. Regisseur und Drehbuchautor Cälin Peter Netzer hat jedenfalls bestätigt, dass er von der Beziehung zu seiner eigenen Mutter ausgegangen sei – und der Film habe der Frau Mama auch gefallen.

Der Mehrheitsmeinung der Kritiker kann man allerdings nicht immer folgen. »Camille Claudel 1915« von Bruno Dumont ist sicherlich kein unterhaltsamer Film, aber so schlecht, wie er in den Punktetabellen der Berliner Zeitungen wegkommt, ist er ganz gewiss nicht. Juliette Binoche spielt die Schwester des Dichters Paul Claudel, die nach einer unglücklichen Beziehung zu Auguste Rodin in einer psychiatrischen Anstalt landete. So abgekämpft und verhärmt hat man die Binoche noch nie und so aussichtslos hat man die Lage einer wohl doch psychisch gesunden Frau in der Psychiatrie vergangener Tage selten gesehen. Keine leichte Kost fürs Kinopublikum.

Madame Binoche ging bei der Preisverleihung leer aus. Den Silbernen Bären für die beste Schauspielerin erhielt Paulina García für ihre Darstellung der Gloria in dem gleichnamigen Film. Gloria ist über fünfzig, Single und einer neuen Liaison nicht abgeneigt. Sie verliebt sich in einen geschiedenen Mann, der von seiner erwachsenen Tochter und von der Ex-Ehefrau nicht losgekommen ist. Die komplizierte Beziehung der beiden verfolgt die chilenische Komödie mit einem lachenden und einem weinenden Auge – und mit viel Schwung.

David Gordon Green erhielt den Silbernen Bären für die beste Regie. In »Prince Avalanche« erzählt er die Geschichte zweier Männer, die 1988 auf einer kilometerlangen Landstraße durch die von Bränden heimgesuchten Wälder von Texas eine neue Fahrbahnmarkierung anbringen sollen. Seine Independent-Produktion, die zuvor schon im Sundance-Festival gelaufen ist und sich damit in die Reihe der amerikanischen Nicht-Weltpremieren einordnete, hinterließ ein gut gelauntes Publikum.

Vermutlich hat nichts der Berlinale so sehr geschadet, wie die Vorverlegung der Oscar-Verleihung in den späten Februar. Sie hat dazu geführt, dass kaum noch relevante amerikanische Filme im Wettbewerb gezeigt werden. Früher lief sogar hin und wieder ein Oscar-Gewinner in Berlin (dem Oscar-Reglement gemäß auch nur als europäische Uraufführung), in diesem Jahr war nur das nominierte Musical »Les Miserables« eingeladen, das kaum Chancen haben dürfte, den Oscar zu gewinnen. Eine spannende Frage ist, wie viele Besucher der rumänische Wettbewerbsgewinner im Laufe des Jahres, wenn der Berlinale-Hype längst vorüber ist, in die Kinos locken wird.

Claus Wecker/Rita Kratzenberg
Alle Preisträger unter: www.berlinale.de

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