Schirn: »Die Affichisten – Poesie der Großstadt«

24897-1Der Abriss als Kunst

Plakat, Aushang, Anschlagzettel – das findet man im Duden als Synonyme des aus dem Französischen eingedeutschten Begriffs der Affiche. Unter Affichisten sind, daran angelehnt, aber nicht etwa Künstler zu verstehen, die Plakate gestalten, sondern solche, die aus Plakaten, Aushängen und Zetteln Kunst machen. Entstanden ist diese Kunst der Umwidmung, auch Décollage genannt, nach dem Zweiten Weltkrieg. Auf  ihren Streifzügen durch Paris und Rom sammelten die Affichisten Teile der in den Straßen der Stadt verwitterten und zerfetzten, sich in Schichten überlagernden Plakatwände und erklärten so die urbane Alltagswelt zum Gemälde. In 150 Exponaten stellt die Kunsthalle Schirn in Frankfurt nun diese Kunst des Plakatabrisses in ihrer ganzen Bandbreite vor, von kleinen Fragmenten zu überwältigenden Großformaten. Die mit dem Baseler Museum Tinguely konzipierte Ausstellung umfasst den Zeitraum zwischen 1946 und 1968.
»Die Kunst der Affichisten ist direkt und subversiv. Sie liest sich wie eine Gegengeschichte der Malerei nach 1945 in ihrer Entwicklung von den abstrakten Tendenzen der Nachkriegszeit hin zur Pop Art der 1960er-Jahre«, sagt Esther Schlicht, die Kuratorin der Ausstellung. Ihr medialer und intermedialer Charakter lasse die Arbeiten auch nach 60 Jahren »überraschend frisch und unverbraucht« erscheinen.
Eine entscheidende Rolle spielt die Typografie der Plakate. Das Augenmerk der Künstler richtete sich auf die in den Plakatabrissen generierte Dekomposition von Worten und Buchstaben. Indem sie die von fremder Hand, von anonymen Passanten zerstörten Plakate als Kunst deklarierten, stellten die Affichisten in Frage, was für die Collage bisher Voraussetzung war: das Handwerk des Künstlers, erläutert Reinhard Döhl in »Collage und Realität«. Die Décollage habe damit ein weiteres Mal den Anspruch schöpferischer Individualkunst konterkariert, der, nach seiner Demontage in Dada und Surrealismus, in der subjektiven Kunst der abstrakten Malerei und des Informel wieder erhoben worden sei.
Der wohl bekannteste Affichist dürfte Mimmo Rotella (1918 – 2006) sein, der unabhängig von den französischen Affichisten im Rom der 50er-Jahre den Plakatabriss als künstlerisches Ausdrucksmittel entdeckte. Anders als die Pariser Raymond Hains (1926 – 2005) und Jacques Villeglé (*1926) griff Rotella direkt in die Oberfläche ein, um Strukturen, Muster und Schichtungen offenzulegen. Hains und Villeglé schufen 1949 den ersten kunstgeschichtlich verbürgten Plakatabriss »Ach Alma Manetro«. Der 2,56 Meter breite manifestartige Fries bildete den Grundstein dieser künstlerischen Praxis der Décollage. Von Villeglé stammt auch der für seine Konzeption zentrale Gedanke der anonymen Autorschaft, der in dem Begriff des ›lacéré anonyme‹ mündete.
François Dufrêne (1930–1982) verwendete nahezu ausschließlich die Rückseite von Plakaten (dessous d’affiches), denen er eine besondere poetische Qualität zusprach. Die Arbeiten des sich zeitlebens als Dichter definierenden Künstlers sind im Gegensatz zu den Werken von Hains und Villeglé abstrakt-lyrisch und zeugen von einer archäologischen Suche nach dem Unsichtbaren.
In den fünfziger Jahren begann auch der Leverkusener Wolf Vostell (1932–1998) mit den neu entwickelten Formen von Aktion und Happening, die Stadt zu erobern, und übertrug das Konzept der ›dé-coll/age‹ auf alle Bereiche seines Schaffens. Bei seinem 1958 in Paris konzipierten ersten europäischen Happening »Das Theater ist auf der Straße« forderte er Passanten auf, Wortfragmente auf zerrissenen Plakaten zu lesen oder Plakate eigenhändig abzureißen. Während für die französischen Affichisten die zerstörten Plakatflächen Ausdruck eine neuer visuellen Poesie waren, wurden sie für Vostell zum Ausgangspunkt einer entschieden kritischen Auseinandersetzung mit dem Plakat als Medium der modernen Massenkommunikation.
Wer die 50/60er Jahre nicht miterlebt oder sich nicht vorher in die Ausstellungsgeschichte eingelesen hat, sollte sich für eine Führung entscheiden, um außer erstaunlich modernen Bildern auch die politisch sozialen Zusammenhänge kennenzulernen.

sp
Bis 25. Mai: Di. – So. 10 – 19 Uhr; Mi, Do. bis 22 Uhr
www.schirn.de

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