Robert Seethalers »Ein ganzes Leben«

Robert Seethaler (Foto: Urban Zintel)Nur am Berg geht er gerade

Mit seinem letzten Roman »Der Trafikant« hat der österreichische Schriftsteller und Schauspieler Robert Seethaler nicht nur viel Anerkennung, sondern zugleich auch den Zugang zu einem neuen, dem renommierten Hanser-Verlag (Berlin) und damit auch zu einem größeren Publikum gewonnen. Der neue Roman beschreibt, ohne je in Kitsch abzukippen, die Gefühle und Empfindungen, die Hoffnungen und die Erwartungen eines Menschen, der sich selbst nicht ausdrücken kann.
»An einem Februarmorgen des Jahres neunzehnhundertdreiunddreißig hob Andreas Egger den sterbenden Ziegenhirten Johannes Kalischka, der von den Talbewohnern nur der Hörnerhannes gerufen wurde, von seinem stark durchfeuchteten und etwas säuerlich riechenden Strohsack, um ihn über den drei Kilometer langen und unter einer dicken Schneeschicht begrabenen Bergpfad ins Dorf hinunterzutragen.« Doch kurz vor dem Ziel reißt sich der Hörnerhannes mit plötzlicher Kraft los und verschwindet im Schneegestöber. »Ein ganzes Leben« später, am Ende des Buches, sieht Andreas, inzwischen selbst weit über siebzig, wie Touristen einen stocksteif gefrorenen und eigenartig verdrehten Körper, dem noch dazu ein Bein fehlt, auf Skiern, die als Trage dienen, in die Kapelle bringen. Als sich Andreas über ihn beugt, schauen ihn zwei lidlose, weit aufgerissene Augen wie aus einem Fenster an. Zwischen diesen beiden, für den jungen wie für den alten Andreas traumatischen Begebenheiten hat sich sein eigenes Leben abgespielt.
Mit etwa vier Jahren kommt er als Waisenkind zu Verwandten, dem Bauern Krautstocker, der ihn mit harter Arbeit und kräftigen Schlägen großzieht. Gründe dafür gibt es genug: »verschüttete Milch, ein verstottertes Abendgebet«. Andreas dachte langsam, sprach langsam und er ging langsam, nachdem ihn der Bauer mit einem Stock den Oberschenkel zertrümmert hatte und das Bein nicht wieder richtig zusammengewachsen war. Aber er ist fleißig, beklagt sich nie und ist vor allem stark und geschickt. Mit dreißig kauft er sich ein kleines Stück Land, groß genug für einen Gemüsegarten. Er verliebt sich in die neue Kellnerin der Dorfkneipe, aber unbeholfen, wie er ist, findet er keine Worte, um sich zu erklären. Marie und er gehen viel spazieren. »Um sie herum  ragten die Berggipfel  in den klaren Himmel. Marie fand, dass sie aussahen wie aus Porzellan, und obwohl Egger in seinem ganzen Leben noch kein Porzellan gesehen hatte, gab er ihr recht.« Weil er nun Verantwortung hat, »er wollte Marie beschützen und für sie sorgen«, bewirbt er sich bei einer Firma, die im Dorf eine Seilbahn baut. »Ich bin stark. Ich kann alles. Ich mache alles.« »Aber du hinkst«, sagte der Prokurist. »Im Tal vielleicht«, sagte Egger. »Am Berg bin ich der Einzige, der gerade geht.« »Willkommen bei Bittermann & Söhne. Kein Alkohol, keine Hurereien, keine Gewerkschaften. Arbeitsbeginn  morgen früh halb sechs.« Das sieht nach Idylle aus. Aber in diesem ganzen Leben kann es kein dauerhaftes Glück geben. Schon nach ein paar Monaten schlägt das Schicksal in Gestalt einer Lawine zu (ob es nach dem Bau der Seilbahn wirklich nur das Schicksal ist, lässt Seethaler klugerweise offen). »Wie eine riesenhafte Faust« zerschlug sie die Wände seines Hauses und sein kurzes Glück. Er überlebte, schwer verletzt, weil er ein Geräusch gehört hatte und nach draußen gegangen war. Seine Trauer hat keine Sprache, sie nimmt ihn nur in Besitz. »Später erinnerte er sich an die Jahre nach der Lawine als eine leere, schweigende Zeit, die sich nur langsam und beinahe unmerklich wieder mit Leben füllte.« Der Krieg bringt für ihn noch einen Zuschlag: Erst nach acht Jahren russischer Gefangenschaft kommt er in sein Dorf zurück. Bei Aufräumarbeiten hatte er einmal Bleistift und Papier gefunden und hilflos rührend an seine tote Marie geschrieben: »Ich will nicht klagen. Manch einer liegt steif und kalt im Schnee, während ich mir immer noch die Sterne anschaue.« Die Jahre vergehen, er ist nicht unglücklich, denn »er hatte eine Liebe gehabt und sie wieder verloren.« Und trotzdem hatte er das Gefühl, wenn die Sonnenstrahlen sein Gesicht erwärmten, »dass vieles doch gar nicht so schlecht gelaufen war.« Die Sympathie und die Achtung, die Seethaler für seinen Andreas Egger empfindet, überträgt sich. Wer diesen vom Leben so gebeutelten Mann einmal kennen gelernt hat, vergisst ihn nicht.

Sigrid Lüdke-Haertel

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