Michel Bergmann erzählt von seiner Kindheit in Frankfurt: »Alles was war«

Michel Bergmann (Foto: Anke Apelt)Weihnachten oder Chanukka

Frankfurter Leser kennen diesen Frankfurter Geschichtenerzähler (und Filmemacher). Mit seinen Romanen »Die Teilacher«, 2010, »Machloikes«, 2011, und »Herr Klee und Herr Feld«,2013  hat er von Juden erzählt, die sich nach dem Holocaust (wieder) in Frankfurt niedergelassen hatten, zum Beispiel als Teilacher, das heißt als Wäschevertreter für Weißwäsche.  Sie alle sprechen ein jiddisch eingefärbtes Deutsch. Viele von ihnen verfügen über den sprichwörtlichen jüdischen Witz, über Weisheit und Humor. Und alle tragen an der Last, die man deutsche Schuld nennen kann. Sie leben zwar hier, sind aber nirgends zuhause.
Ein alter Mann, in dem unschwer der Autor zu erkennen ist, begibt sich an den Ort seiner Kindheit und erinnert sich, wie er als kleiner Junge, den Schulranzen auf dem Rücken, aus dem Haus kommt, losrennt. »Ins Leben. Unbeschwert. Es ist sein Tag! Wie jeder Tag sein Tag ist.« Er stromert mit anderen Jungen auf Trümmergrundstücken im Frankfurter Westend herum. Er weiß noch nicht, dass die jüdischen Kinder eine Last zu tragen haben: sie müssen die Eltern schonen. »Die haben viel mitgemacht.« Ihm ist noch nicht bewusst, dass »jedes jüdische Kind im Deutschland der Fünfziger … am Rand eines Massengrabs« aufwächst, oft ohne Omas und Opas, ohne Tanten und Onkels. Bergmann beschreibt in dreizehn Kapiteln das Erwachsenwerden eines jüdischen Kindes im Nachkriegsfrankfurt. Für Eltern und Kinder  (das ist ausführlich beschrieben in der oben erwähnten Trilogie) keine einfache Zeit. Doch ergeben sich viele anrührende, oft auch komische Geschichten. Anfangs wohnen die Eltern mit dem kleinen Jungen in einem verlassenen jüdischen Krankenhaus. Frieda, ein 18 jähriges, sehr beliebtes schlesisches Flüchtlingsmädchen ist auch dort untergekommen. Sie möchte unbedingt Weihnachten feiern. Obwohl Chanukka ausgerechnet auf den 24.12. fällt, beschließt die jüdische Flüchtlingsgemeinschaft, heimlich für sie  ein christliches Weihnachtsfest auszurichten, mit Tannenzweigen, Kerzen, Lametta, Geschenken. Theodor Wiesengrund ist sogar »bereit, den Weihnachtsmann zu geben«. Als sich aber überraschend Rabbiner Riesenfeld ankündigt, wird schnell der Alkohol versteckt und der wunderschön geschmückte Saal in eine »karge Betstube verwandelt«. Der Militärrabbiner für die amerikanische Besatzungszone bringt nicht nur vier US-Soldaten, sondern auch eine Gans mit. Die Festgemeinde verdrückt einträchtig die Gans, und alle singen fröhlich »Oh Tannenbaum«.
Der Junge wird älter, er verliebt sich, er wird betrogen und erlebt seinen ersten heftigen Liebeskummer, schafft das Abitur mit Ach und Krach, »verachtet die Bürgerlichkeit der sechziger Jahre«, »genießt seine Freiheit«, aber »vertut seine Zeit«. Seine einzige Einnahmequelle:  ein illegaler Spielclub für die Söhne der Neureichen. Eingewoben in das Leben des Jungen sind immer wieder Gedanken über die jüdisch-deutsche Problematik. Durch Beziehungen wird er Volontär bei der »Frankfurter Rundschau«. Dabei lernt er den tatsächlich bewundernswerten Generalstaatsanwalt Fritz Bauer kennen.  Dessen unermüdlichen Kampf um den Auschwitz-Prozess, den der junge Journalist voller Leidenschaft und Anteilnahme verfolgt. »Gibt es kollektive Unmoral? Kann das mit jedem geschehen? …Lassen sich Verantwortungsgefühl, Vernunft, Moral, Gewissen so einfach ausschalten wie eine Nachttischlampe?«
Nach dem frühen Tod des Vaters führt die Mutter den Wäschegroßhandel mehr oder weniger alleine weiter, sie hat zwar zwölf Handelsvertreter, aber »das Geschäftsleben und die Tatsache, ins kalte Wasser gesprungen zu sein, haben sie verhärtet«. Als sie wieder heiratet, entfremden sich Mutter und Sohn vollständig. Bei ihrer Beerdigung begegnet der Sohn einem alten Freund. Dreißig Jahre lang war der Kontakt unterbrochen. Als sie sich wiedersehen,  ist es »wie am ersten Tag«. Diesem Freund ist das Buch gewidmet, eine oft bewegende Biographie, mit zuweilen eigenartigen Gedanken und etwas kühnen Behauptungen, etwa Fritz Bauer sei »Ästhet und Schöngeist, dem man aus diesem Grunde homosexuelle Neigungen nachsagt«. Oder »die deutschen Kinder spielen anders. Derber, rustikaler. Wollen immer Krieg spielen«. Oder dem Scherz, Adorno (= Theodor Wiesengrund) als Weihnachtsmann zu präsentieren. Hier ist ein dreifach donnerndes Helau angebracht.

Sigrid Lüdke-Haertel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert