»Mia madre« ab 19.11.2015 im Kino!

Bis zum poetischen Ende

»Mia madre« von Nanni Moretti

Manchmal kommt man aus dem Kino und ist einfach beglückt. Einerseits, weil man etwas erfahren, etwas gesehen, an etwas teilgenommen hat, was einen reicher macht. Andererseits weil man Zeuge war, wie etwas gelungen ist. Wie eine ästhetische und moralische Rechnung unglaublicherweise aufging. Wie aus lauter disparaten und widersprüchlichen Dingen etwas ungemein stimmiges Ganzes wird. Es geht um Politik, um Liebe und um Poesie. Immer tut es das. Und darum, wie widersprüchlich sich das zueinander verhält.

Nanni Morettis Film »Mia madre« kann man auf zweierlei Arten ansehen. Die erste hat mit dem Gesamtwerk dieses totalen Filmemachers zu tun, der Regisseur, Schauspieler, Produzent und Autor in einer Person ist. Da gibt es eine Linie, angefangen mit seinem allerersten, noch auf Super-8 gedrehten Spielfilm »Ich bin ein Autarkist« aus dem Jahr 1976 und seiner Figur des Michele Apicella, der in etlichen Filmen und in verschiedenen Stadien eines sehr umständlichen Erwachsenwerdens gezeigt wurde. Dieser schlaksige, mal vergrübelte, dann wieder cholerische Typ, der alle Dramen und Grotesken vom Post-68er-Rebellen bis zum leidenden Kleinbürger durchmacht. Dann die beiden wundervollen Skizzenfilme, »Liebes Tagebuch« und »April«, in denen Nanni Moretti sein Konzept des »Filmens in erster Person Einzahl« zur Perfektion brachte. Vespafahren als urbane Poesie und der Jahrhundertsatz, dem Fernseher entgegengeschleudert; »Sag’ was Linkes! Sag’ was Linkes!«. Und schließlich ein Film wie »Das Zimmer meines Sohnes«, der so nüchtern wie einfühlsam von einer Familie erzählt, der das Schlimmstmögliche widerfährt: der Tod eines Kindes. Es geht um Politik, um Liebe und um Poesie. Und es geht um den Tod, auch in »Mia madre«.
Und diesen Film kann man genauso gut ansehen, ohne zu wissen wie viel Selbstreferenz, autobiographische Details, Elemente einer fortlaufenden Chronik darin stecken. Es ist eine ganz einfache, existenzielle und berührende Situation, in die uns der Film mit dem ersten Bild hineinzieht: Streikende Arbeiter. Nein. Es sind die Aufnahmen eines Films über streikende Arbeiter. Die Regisseurin ist nicht ganz zufrieden. Sie versucht der Hauptdarstellerin etwas zu sagen, die Anwesenheit des Schauspielers in seiner Rolle betreffend, etwas von Brecht. Oder ist es doch von Nanni Moretti? Ob man sich verständlich gemacht hat, bleibt ohnehin offen.
Margherita, die Regisseurin (gespielt von der grandiosen Margherita Buy, die in den letzten Filmen von Nanni Moretti immer wichtiger wurde und endlich das Zentrum eines Filmes von ihm bildet) hat es nicht leicht. Die Dreharbeiten werden durch die Ankunft des, sagen wir mal etwas exzentrischen amerikanischen Stars (John Turturro, der nie die Grenze zur bloßen Karikatur überschreitet) eher erschwert. Zweifel plagen die Filmemacherin, ob sie einen politischen oder nicht doch einen persönlichen Film machen sollte; die Journalisten nerven mit ihren Fragen. Und auch das Privatleben steckt voller Tücken. Gerade hat sich Margherita von ihrem Freund, einem Schauspieler, getrennt, die Beziehung zur Tochter gestaltet sich anstrengend, und dann wird auch noch die Mutter ins Krankenhaus eingeliefert. Eine würdige alte Dame, die es nicht gewohnt ist, dass man sie entmündigt. Die Mutter wird sterben, das ist gewiss. Margherita und ihr Bruder Giovanni (Nanni Moretti,der schlaksige Melancholiker) wechseln sich am Krankenbett ab. Dann holt man die Mutter für ihre letzten Tage nach Hause. Und bei alledem muss der Film zu Ende gebracht werden, auch wenn man sich zwischenrein fragen mag: Wozu eigentlich?
Der Film »Mia madre« entsteht sozusagen in Margheritas Kopf, das Wirkliche, das Gefilmte, das Geträumte und das Erinnerte ergeben erst zusammen das Leben einer Person. Manchmal weiß man beim Zuschauen nicht genau, in welcher Ebene des Wirklichen man sich gerade befindet. Sie sind alle gleich wichtig. Sie werden von der Liebe, der Politik und der Kunst zusammengehalten. Und dann eben auch vom Tod.
Ganz nebenbei ist es eine Lektion in Filmemachen. Mit Margherita können wir erkennen, wie etwas nicht funktioniert, am komischsten in der Szene, wo mit dem  amerikanischen Star eine Szene in einem fahrenden Auto gedreht wird: Wenn er fahren soll, kann er nicht spielen, und wenn er spielen soll, dann kann er nicht fahren. So viel zu Film und  Wirklichkeit. Und das führt zu dem Hinweis, dass »Mia madre« eben auch eine Komödie ist. Neben einem realistischen Drama, einer poetischen Dekonstruktion, einem  Traumstück, einer magischen Autobiographie und … ach, eben ein Moretti-Film. Einer der besten, um genau zu sein.
Man ist ganz nahe an einem Menschen, den das Leben zu überfordern droht und der doch kämpft, nicht nur um die Erfüllung seiner Pflichten, sondern auch um die eigene, nun eben, Autarkie. Vielleicht trägt Margherita die ganze Last des untergehenden, linksliberalen, humanistischen und kunstproduzierenden europäischen Kleinbürgertums auf ihren Schultern, wer weiß. Giovanni dagegen ist erschöpft, er hat seinen Arbeitgeber den Job gekündigt. Er mag nicht mehr. Dennoch sind die beiden, Bruder und Schwester, aber auch vielleicht nur zwei Seiten einer Person. Und die wiederum ein Traum ihrer Mutter.
Denn der Film heißt nicht umsonst »Mia madre«. Wir sehen eben nicht einem Menschen (Giulia Lazzarini, die mehr Theater und klassisches Fernsehspiel gemacht hat als Kino) beim Sterben zu, sondern einem, der bis zu seinem letzten Tag lebt. Diese Frau war nicht nur Lehrerin von Beruf, sie war es offenbar von ganzem Herzen und war es auch für ihre Kinder und ist es bis zu ihrem Tod für die Enkeltochter. Deshalb gehört ihr auch die Schlussszene, eine der poetischsten Film-Ausgänge die ich kenne.
Filme wie dieser geben einem den Glauben an das Kino zurück.

Georg Seeßlen
MIA MADRE
von Nanni Moretti, I 2015, 106 Min.
mit Margherita Buy, Beatrice Mancini, John Turturro, Giulia Lazzarini
Drama
Start: 19.11.2015

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert