»Lion – Der lange Weg nach Hause« von Garth Davis

Zwischen zwei Welten

Ein kleiner Junge verirrt sich in Indien, wird von einem Ehepaar in Australien adoptiert, erinnert sich als junger Mann wieder an seine Kindheit und reist zurück nach Indien, um seine Mutter zu suchen. Diese Wanderschaft zwischen zwei Welten, die tatsächlich stattgefunden hat, ist eine ideale Vorlage zu einem Buch, und das Buch schreit geradezu nach einer Verfilmung. Der australische Werbe- und Fernsehregisseur Garth Davis hat sie sich in seinem Spielfilmdebüt vorgenommen.

Trotz seiner beruflichen Vorgeschichte hat Davis aus der Autobiographie von Saroo Brierley kein gefälliges Kinostück gemacht. Die unfreiwillige Fahrt des Fünfjährigen im verschlossenen leeren Zug über 1.600 Kilometer nach Kalkutta, ist nicht nur für den kleinen Jungen eine Geduldsprobe. Doch sie ist nötig, um uns Saroos Nöte nahezubringen. Wenn er den Zug schließlich in Kalkutta verlassen kann, versteht ihn keiner, weil die Menschen dort Bengali und nicht das in seiner Heimat Zentral-Indien geläufige Hindi sprechen. Zudem kommt es in der überfüllten Stadt auf einen kleinen Jungen mehr oder weniger nicht an. Saroo ist ein Straßenkind, das nach einigen bedrohlichen Situationen in einem Waisenhaus landet.
Doch er hat Glück und wird von einem australischen Ehepaar adoptiert. Es ist der kritischste Moment des Films, wenn Nicole Kidman und David Wenham als das Ehepaar auftreten, das auf eigene Kinder verzichtet, wie sich später herausstellt. Aber dieser etwas befremdliche Moment ist auch ein Zeichen dafür, dass wir Zuschauer uns in Indien eingelebt haben, dass also der Filmanfang funktioniert hat.
Das Ehepaar Brierley bietet dem Jungen ein traumhaftes Zuhause, direkt am Meer. Nur ein zweiter, im Gegensatz zu Saroo stark traumatisierter Adoptivsohn stört das recht harmonische Familienleben. Die Verfilmung der mit Dankbarkeit verfassten Autobiographie wartet zudem mit einem besonderen Clou auf: der kleine Sunny Pawar spielt den fünfjährigen Saroo ebenso überzeugend wie seinerzeit Dev Patel den Jungen in »Slumdog Millionär«. Älter geworden, spielt Patel jetzt den herangewachsenen Saroo.
Der Gefahr, dass »Lion« zu einem Werbefilm für Adoptionen wird, entgehen Drehbuchautor Luke Davies (»Life«)  und der nicht mit ihm verwandte Regisseur durch den Teil ihres Films, der mit einer Proustschen Szene beginnt. Der jugendliche Saroo entdeckt in der Küche von Freunden das indische Gebäck Jalebi, das er als kleiner Junge so geliebt hat, und kostet davon. Mit dem Geschmack kehrt die Erinnerung an seine Kindheit zurück, und plötzlich fühlt er sich in der westlichen Welt nicht mehr zu Hause. Zunächst leidet das Verhältnis zu seiner Freundin Lucy (Rooney Mara), die ihn besser versteht, als er glaubt. Sodann gerät er in einen inneren Konflikt im Bezug zu seinen Adoptiveltern, denen er den ersten Impuls, seine leibliche Mutter wiederzufinden, zunächst verschweigt. Es ist ein Kampf mit sich selbst, ob aus dem Impuls ein Wunsch wird und ob der schließlich realisiert wird.
Natürlich kann kein Film mit dieser Story ohne eine Rückkehr zu den Wurzeln des Helden auskommen. So bleibt schließlich bei einem dank Google Earth wunderschön ergreifenden Ende kaum ein Auge trocken.

Claus Wecker
LION – DER LANGE WEG NACH HAUSE
von Garth Davis, AUS 2016, 120 Min.
mit Dev Patel, Nicole Kidman, Rooney Mara, David Wenham, Sunny Pawar, Priyanka Bose. Nach »Mein langer Weg nach Hause« von Saroo Brierley.
Drama
Start: 23.02.2017

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