Lesetipps von Alf Mayer

Ketzer, Kapitalisten, Waffenhändler,
Freiheitskämpfer, Spione

Sommer ist die Zeit der Gelegenheiten, sich einmal wieder am Stück in Erzählwelten zu versenken. Hier einige Vorschläge:

630 Seiten und 15 Seiten Nachwort umfasst der komplexe, virtuos durch die Jahrhunderte streifende Roman »Ketzer« von Leonardo Padura (Unions Verlag). Nichts weniger als die Ideengeschichte der persönlichen Freiheit wird hier aufgeblättert, ironisch, elegant und sinnlich. Padura, einer der großen Schriftsteller Kubas, am bekanntesten wohl für sein »Havanna-Quartett«, rekrutiert dafür seinen altgedienten Detektiv Mario Conde, der sich vom Kauf und Verkauf von Büchern aus zweiter Hand ernährt. Indem er den Spuren einer kubanischen Emo folgt, einer rebellischen jungen Frau, blättert er uns das Abendland auf. Mit diesem neunten Padura-Roman zeigt der  Zürcher Unionsverlag erneut in vorbildlicher Art, wie man Autoren betreut. Übersetzer Hans-Joachim Hartstein verdient zu Recht eine eigene Erwähnung.
Herzblut und Commitment gibt es auch im Verlag Liebeskind, wo übersetzt von Peter Torberg, innerhalb der Werkreihe von David Peace nun einer der wichtigsten politischen Romane Großbritanniens vorlegt: »GB84«. In England im Jahr 2004 herausgekommen, ist dies eine furiose Abrechnung mit der Thatcher-Ära, auch stilistisch eine Großtat. David Peace, von dem wir das »Red Riding Quartett« haben und bisher zwei Tokio-Romane, allesamt bei Liebeskind erschienen und großartige Lektüre, seziert hier den Bergarbeiterstreik von 1984 als einen Verfall politischer Moral, zeigt uns ein Großbritannien, in dem Orwells Visionen Realität geworden sind.
Heller im Ton, aber nicht weniger abgründig, very british eben, 797 Seiten im Umfang und nun als Taschenbuchausgabe vorliegend, zeigt uns John Lanchester in »Kapital« das Leben in den Zeiten der Finanzkrise. Aus den Hoffnungen und Ängsten der Bewohner einer ziemlich normalen Straße in London, der Pepys Road, entwickelt sich ein Gesellschaftspanorama von großer Kraft, erzählt leichtfüßig und witzig, manchmal aberwitzig, von den Widersprüchen unserer Zeit – und von der alles beherrschenden Gier.
Gier ist auch der Treibriemen in einem großen, Generationen übergreifenden amerikanischen Roman, in Philipp Meyers »Der erste Sohn«. Nicht von ungefähr eröffnet der mit »Rost« bekannt gewordene Autor seine Saga mit einem Zitat von Edward Gibbon, der voluminös den Untergang des römischen Reiches beschwor. Die Familiengeschichte der McCulloughs trägt all das »Böse im Blut«, das die Besiedelung und Eroberung Amerikas durch die Weißen ermöglicht hat. Gewagt, aber stimmig, wie Philipp Meyer hier die imperiale Eroberungskultur der Weißen mit der der Comanchen zusammenbringt. Eli McCulloughs, der Sohn weißer Siedler in Texas und später Begründer einer gewaltbereiten Dynastie, wurde im Kindesalter von den Steppenkriegern entführt und wuchs bei ihnen auf. Sekundärlektüre hierzu: die große Studie »The Comanche Empire« des Finnen Pekka Hämäläinen (Yale University Press, 2008).
Gehörigen Umfang hat der Thriller »Faceless. Der Tod hat kein Gesicht« von Terry Hayes, in dem der 11. September, Biowaffen, Terrorismus und der Krieg gegen ihn durchdekliniert werden. Hayes, der einst das Drehbuch zu »Mad Max II« schrieb, bietet schnelle Schnitte und rasche Ortswechsel, geht über die herkömmlichen Blockbuster-Rezepte – die es ja auch für die Strand- oder Flugzeuglektüre gibt – hinaus. Der Jäger und der Gejagte, der »Sarazene« genannt, sind mehr als Pappfiguren. Hayes hat das Anliegen, dass wir seine Figuren verstehen können. »I Am Pilgrim« lautet der Originaltitel. Es sind Pilgerwege, Reisen nach innen, die Hayes neben aller action beschreibt. Möglicherweise wird eine Trilogie daraus.
Souverän wie ein Schachmeister führt uns Oliver Bottinis in seinem Kriminalroman »Ein paar Tage Licht« durch das Labyrinth der (deutschen) Rüstungsexporte. Spannend, überraschend, zupackend und poetisch, einfach traumhaft geschrieben und erzählerisch exzellent, beweist dieser meisterliche Roman des zweifachen Trägern des Deutschen Krimi-Preises erneut, auf welchem Niveau Zeitgenossenschaft im Kriminalroman möglich ist. In Algerien wird ein deutscher Rüstungsmanager entführt, angeblich von islamischen Terroristen – Oliver Bottini macht daraus einen Roman, auf den Eric Ambler stolz gewesen wäre. Ganz, ganz große Klasse!
Nordafrika ist auch Schauplatz in »Die Kairo-Affäre« von Olen Steinhauer, der nach drei hochgerühmten, aber vermutlich nicht sonderlich verkaufszahlenträchtigen Thrillern mit dem CIA-»Touristen« Milo Weaver im Heyne-Verlag nun innerhalb des Random-House-Imperiums bei Blessing untergekommen ist. Steinhauer, ein ungewöhnlich weltoffener, nomadischer Amerikaner, mit einer Serbin verheiratet, lebte lange Jahre in Osteuropa,  schrieb in seinen Anfängen fünf unübersetzte Kriminalromane, die in einem unbenannten Land hinter dem Eisernen Vorhang spielen. In der »Kairo-Affäre« wird die Idee der arabischen Revolution gestohlen. Das verbindet sich mit dem Engagement der NATO-Allianz im Jugoslawienkrieg. Steinhauer erzählt aus der Sicht von fünf Personen privat und politisch, im Mittelpunkt die Frau eines US-Diplomaten und Geheimdienstlers. Kluge Lektüre – John Le Carré ohne Schnörkel.
Der Tahir-Platz in Kairo ist der archimedische Punkt der jungen Autorin Sophie Sumburane in ihrem im Bielefelder Pendragon-Verlag erschienenen Kriminalroman »Gefährlicher Frühling«. Ein Mord im sauberen Leipzig führt hier in die Wirren des ägyptischen Frühlings. Sophie Sumburane, die im wirklichen Leben mit evolutionärer Anthropologie und forensischer Linguistik zu tun hat, bietet uns unter anderem zwei arabische Erzählstimmen, den arbeitslosen Oppositionellen Kalem Ryshad und den folternden Polizisten Mohamad Hassan. Beeindruckend, wie sie die Perspektiven und Seiten wechselt, wie ihre Protagonisten mit den Ungerechtigkeiten der Welt und mit sich selbst ringen.

–    Leonardo Padura: »Ketzer« (Herejes). Zürich: Unionsverlag, 2014, 520 S., 24 €
–    David Peace: »GB84« (GB84). München: Liebeskind, 2014, 544 S., 24,80 €
–    John Lanchester: »Kapital« (Capital). München: Heyne, 2014, 800 S., 11,99 €
–    Philipp Meyer »Der erste Sohn« (The Son). München: Albrecht Knaus Verlag, 2014, 608 S., 24,99 €
–    Terry Hayes: »Faceless. Der Tod hat kein Gesicht« (I Am Pilgrim). München: Page &Turner, 2014, 800 S., 14,99 €
–    Oliver Bottini: »Ein paar Tage Licht«. Köln: DuMont, 2014. 512 S., 19,99 €
–    Olen Steinhauer: »Die Kairo-Affäre« (The Cairo Affair). München: Blessing Verlag, 2014. 494 S., 19,99 €
–    Sophie Sumburane: »Gefährlicher Frühling«. Bielefeld: Pendragon-Verlag, 2014. 280 S., 12,99 €

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