Schnippschnapp (53)

Mal ehrlich, so langsam hängt sie einem zum Hals raus, die männliche Vorhaut. Zugegeben, ein etwas plumpes Wortspiel, das der Sache (?) auch nicht wirklich gerecht wird. Schließlich wird ja mit Messern und anderen Instrumenten geschnippelt und nicht etwa mit einem kräftig wollüstigen Biß. Da bin ich nun jahre- nein, jahrzehntelang durchs Leben geirrt, ohne mir wirklich Gedanken über die gesellschaftlich-moralisch-ethisch-kulturell-religiöse Tragweite jenes Stückchen Hautes zu machen, das sowieso nur die eine Hälfte der Menschheit betrifft. Und dann plötzlich, inmitten der großen weltpolitischen Diskussionen um Syrien, die Eurokrise, die spanische Bankenrettung, die Hitzefeuer in Colorado und auf Teneriffa schafft es ein deutsches Landgericht den Focus der Berichterstattung zwischen die Männerbeine zu lenken. Und das nicht nur auf der Wissenschaftsseite oder ganz hinten bei Vermischtes – nein, Titel- und Themenseiten widmen sich nun schon wochenlang jenem eichelumspannenden Fetzen Haut, für das für die einen der Spruch gilt »Ich will so bleiben wie ich bin« und für die anderen »Watt wech mutt, mutt wech«.

Nun kann man sich der Logik eines Gerichts, nicht nur eines deutschen, nicht entziehen, daß das Abschneiden von Körperteilen bei Kleinkindern, sei es das Ohrläppchen, die Unterlippe oder die linke kleine Fingerkuppe, ohne medizinische Begründung einen ziemlich rabiaten und letztlich strafbaren Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt. Vor allem, wenn es keine Glaubens- oder Kulturgemeinschaft gibt, die in der Existenz dieser Körperteile eine grundlegende Einschränkung ihrer sinnstiftenden Lebensrituale sieht. Schwieriger wird es schon bei der von uns (zu recht) als grausam bezeichneten weiblichen Genitalverstümmelung, ist sie doch für Kulturkreise sinnstiftend, denen wir schon seit Jahrhunderten gute abendländische Manieren beizubringen versuchen.
Und nun müssen wir erfahren, daß zwei bestimmende Glaubensgemeinschaften dieser Welt die Ausübung ihrer Religion in Gefahr sehen, wenn sie kleinen Jungs nicht die Vorhaut wegschneiden dürfen. Sinnhaftig wird es eigentlich erst, wenn man sieht, mit welchem rituellen Popanz schon in frühester Kindheit das Mannsein gefeiert und damit als herrschende Daseinsform manifestiert wird. Dabei hat doch die andere, bei uns vorherrschende Glaubensrichtung gezeigt, daß man die männliche Vormachtstellung auch ganz ohne rituelles Wegschnippeln erhalten kann. Das Verbrennen von Hexen hat man zwar mittlerweile als etwas übertrieben aufgegeben, aber die weibliche Zweitklassigkeit ist immer noch Grundpfeiler gerade in der katholischen Glaubenswelt. Aber auch in anderen Weltgegenden sind religiöse Rituale entwickelt worden, die die männliche Vorherrschaft zementieren. Die oben erwähnte weibliche Beschneidung zählt auch dazu.
Wer die Kritik an solchen Ritualen nur gegenüber der jeweils anderen Glaubens- und Kulturgemeinschaft zuläßt, macht sich selbst unglaubwürdig. Ganz fatal wird es allerdings, wenn aus orthodoxen Kreisen die Diskussion um das Verbot religiös motivierter Körperverletzung von Kleinkindern in einem Atemzug mit dem Holocaust genannt wird. Das soll die gesellschaftliche Diskussion abwürgen, entwürdigt aber in Wahrheit die sechs Millionen jüdischen Opfer des Naziterrors.
Bringen wir das Ganze doch darauf zurück, was es bis Mitte Mai für uns war: die einen haben‘s, die anderen halt nicht. Und nun können wir uns wieder den großen Themen zuwenden.

Jochen Vielhauer

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