Joel Dicker: »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert«

Joel Dicker: »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert«Das Leben, ein Krimi

Eine Rakete. 1985 in Genf geboren, studierter Jurist, also noch keine dreißig und doch schon knapp an dem Prix Goncourt, der höchsten literarischen Auszeichnung, die Frankreich zu vergeben hat, vorbeigesegelt. Dafür mit dem Preis der Académie française ausgezeichnet, Übersetzungsrechte in dreißig Länder verkauft und einen Roman geschrieben, der sich mit genau den Problemen beschäftigt, den ein solcher Riesenerfolg mit sich bringt. Über eine Million Mal soll sich dieser Schmöker bereits verkauft haben.

Große Literatur? Eher weniger. Doch gut ist das Buch schon, sogar ideal mit seinen 734 Seiten für trübes November-Wetter. Etwas kompliziert, doch auch raffiniert gebaut. Viel Personal, ständig Rückblenden, verschiedene Zeitebenen. Anspielungen, Andeutungen, einige (auch) falsche Fährten.

Der Ich-Erzähler, Marcus Goldman, erst 28 Jahre alt und doch schon ein erfolgreicher Schriftsteller (wie der Autor), hat mit seinem millionenfach verkauften Buch viel Geld verdient. Nun will sein Verlag weiter verdienen und drängt auf ein neues Buch. Doch Goldman hat eine Schreibblockade.

Markus erinnert sich an seinen ehemaligen Professor und Mentor, der an dem jungen Studenten, auch seiner großen Klappe wegen, Gefallen fand. Er zieht zu dem allein lebenden Harry Quebert, in der Hoffnung, Ruhe und Anregung für sein neues Buch zu finden. Doch das Gegenteil ist der Fall. Der junge Autor gerät mitten hinein in eine ungeheuerliche Geschichte, die ihm zugleich den Stoff liefert – für seinen neuen Roman.

Vor 33 Jahren war in der kleinen Stadt Aurora, an der Ostküste der USA, die attraktive fünfzehnjährige Nola, Tochter eines Pfarrers, spurlos verschwunden. Der Fall blieb ungelöst. Kurz nach Goldmans Ankunft wird in Harrys Garten das Skelett von Nola mitsamt dem unversehrten Manuskript eines Buches ausgegraben. Die Gärtner hatten eigentlich nur Hortensien pflanzen wollen. Quebert wandert ins Gefängnis. Markus Goldman, felsenfest von der Unschuld seines Professors überzeugt, ermittelt auf eigene Faust. Tatsächlich hatte der 37 jährige Harry damals mit der minderjährigen Nola ein kurzes, heimliches Verhältnis. Weil es für beide »die Liebe ihres Lebens« war, wollten sie gemeinsam nach Kanada verschwinden. Am Tag ihrer Flucht war Nola plötzlich verschwunden. Das Pech für Harry erweist sich jetzt als Glück für Marcus. Der Stoff ist da. Er muss die Geschichte nur noch aufschreiben. Immer mehr erfährt er über die Menschen in Aurora, über ihre damaligen Verhältnisse, ihre Eigenheiten und Verstrickungen. Immer weiter kommt der Roman voran. War diese liebe und naive Nola doch nicht nur das Unschuldslamm, sondern ein durchtriebenes Luder, das einigen Männern im Ort schon den Kopf verdreht hatte, und auch mehr als nur den Kopf? Fragen über Fragen. Wer hatte die Widmung »Adieu, allerliebste Nola« auf das ausgegrabene Manuskript geschrieben?

Dickers Schmöker, verwickelt und spannend, erzählt auch die Sittengeschichte einer amerikanischen Kleinstadt. Er setzt die Tradition fort, die mit Sherwood Andersons »Winesburg, Ohio« einmal begonnen hatte. Er macht, auch durch seine Dialoge, Mentalitäten sichtbar, zeigt die Hoffnungen und Sehnsüchte seiner Figuren und so, ironisch wie witzig, ihre Schwächen. Der erwachsene Marcus wird durch das gesamte Buch von seiner Mutter verfolgt. Als gute jüdische Mama ist sie in ständiger Sorge, ruft zu den unmöglichsten Zeiten an und bombardiert ihn mit Vorwürfen:

»Warum eilst Du einem alten Professor zu Hilfe, anstatt dir eine Frau zu suchen? (…) Sollen wir sterben, ohne deine Hochzeit zu erleben?« / »Ich habe in letzter Zeit keine kennengelernt, die mir gefallen hat, Mama.« / »Hast du diese Krankheit? Deine Mama liebt dich auch, wenn du krank bist.« / »Was? Welche Krankheit?« / »Die Männer kriegen, wenn sie allergisch auf Frauen sind.« / »Du fragst mich, ob ich homosexuell bin? Nein! (…)Ich liebe Frauen, Mama« / »Frauen? Was soll das heißen, Frauen? Gib dich damit zufrieden, eine zu lieben und zu heiraten, verstanden? (…)Bist du sexsüchtig, Markie? Willst du vielleicht zu einem Psychiater gehen und eine Therapie machen?«

Ganz am Ende, alles hat sich in gewisser Weise zum Guten gewendet, präsentiert der wieder freigelassene Harry seinem ehemaligen Studenten noch eine Weisheit fürs Leben und Schreiben: »Ungefähr eine halbe Sekunde, nachdem der Leser mit dem Buch fertig ist, (…) muss er spüren, wie ihn ein starkes Gefühl überkommt.« Er müsse spüren: »Ein gutes Buch, Marcus, ist ein Buch, bei dem man bedauert, dass man es ausgelesen hat.« Die Leiche allein reicht da nicht.

Sigrid Lüdke-Haertel

 

Joel Dicker:
Die Wahrheit über den Fall Quebert.
Roman.
Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg.
Piper Verlag, München, 2013, 734 S., 22,99 €

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