Jane Austens »Sense and Sensibility« in neuer Übersetzung

Von der Liebe, dem Leid und dem Landleben

Vorsicht. Das ist nicht jedermanns Sache. Der englische Landadel im frühen 19. Jahrhundert. Dafür braucht es schon eine besondere Neigung. Diese hübschen Intrigen. Diese allzu oft vergeblichen Hoffnungen. Diese wunderbar versteckten Boshaftigkeiten. Diese ausführlich ausgebreiteten Heiratspläne. Und diese Plaudertaschen, die unentwegt über alles und jedes tratschen. Wenig Handlung, viele Worte, weil  ihre Sprache diese Figuren beschreibt, sie bewertet und entlarvt. Das muss man mögen. Wer es mag, wird »Vernunft und Gefühl« genießen, in einer neuen, frischen Übersetzung von Andrea Ott, die das Buch vom Staub befreit, ohne die historische Distanz zu leugnen.

Dreh-und Angelpunkt dieses sogenannten Gesellschaftsromans ist die Familie Dashwood. Henry, seine Frau und drei halberwachsene Mädchen leben, dank eines Erbonkels, auf einem großen Anwesen. Doch Henry stirbt sehr früh und das gesamte Erbe fällt an Henrys Sohn aus erster Ehe und dessen geldgierige Frau. Mrs. Dashwood und ihre drei Töchter, zwischen dreizehn und siebzehn, können zum Glück in dem Cottage eines großherzigen Bekannten dauerhaft unterkommen. Auf dem Land ist wenig los. Tee- und Dinner-Einladungen bieten einige Abwechslung. Und, vor allem, der Tratsch. Gut situierte verheiratete Frauen oder Witwen, deren Kinder längst aus dem Haus sind, machen es sich zum Lebensinhalt, »Gesellschaften« zu geben, Landpartien zu arrangieren und, ihre Lieblingsbeschäftigung,  Ehen zu stiften. Die beiden älteren Mädchen Elinor, siebzehn, und Marianne, sechzehn,  können auf kein großes Erbe hoffen, haben aber dafür eine exzellente Erziehung erhalten. Elinor, ruhig, besonnen, vernünftig, ist das genaue Gegenteil ihrer temperamentvollen, leidenschaftlichen Schwester. Eben: Vernunft und Gefühl. Der 35-jährige Brandon, in den Augen der Mädchen uralt, interessiert sich für Marianne. Ihr Urteil über ihn ist scharf: Er gehört zu dem Typ, »über die jeder nur Gutes sagt und für die sich niemand interessiert, jeder begrüßt ihn erfreut, aber keiner kommt auf die Idee, sich mit ihm zu unterhalten.« Ganz anders der Frauenschwarm John Willoughby. Er ist selbstbewusst, lädt Marianne zu einer Fahrt in seinem Zweispänner ein, zeigt ihr sein großartiges Haus und schon gilt das als Heiratsversprechen. Doch angeblich dringende Geschäfte rufen ihn nach London. Er lässt Marianne betrübt zurück. Auch Elinor bleibt kein Liebeskummer erspart. Bald stellt sich heraus, dass der eher wortkarge Edward Ferrars, der sich heftig um sie zu bemühen scheint, seit vier Jahren heimlich verlobt ist.
Jane Austen war noch keine zwanzig Jahre alt, als sie die erste Fassung dieses Romans schrieb. Doch sie verstand es schon,  Gefühle, Hoffen und Bangen in langen Satzgirlanden zu verschlingen, wunderbare Boshaftigkeiten darin zu verstecken und Liebe, Lust und Leid mit Ironie zu tränken.
Die Mädchen sollen auf andere Gedanken kommen. Sie sollen andere Männer kennenlernen. Deshalb lädt sie eine Mrs. Jennings in ihr stattliches Haus nach London ein. In diesen Kreisen spricht sich der Aufenthalt der Mädchen schnell herum, also hofft Marianne, dass Mr. Willoughby sie bald besuchen wird, und wagt sich kaum noch aus dem Haus. »Jedes Klopfen an der Tür verursacht ein Herzklopfen bei ihr.« Sie kann sich auf nichts mehr konzentrieren, sie ist »zu ruhelos, um etwas zu unternehmen, zu beklommen, um sich zu unterhalten«, sie wandert »von einem Fenster zum andern, um sich dann schwermütig sinnend vor den Kamin zu setzen«. Die älteren Landadelsfrauen aus ihrem Bekanntenkreis leiden natürlich auch hier heftig mit. Schwester Elinor dagegen war »von den aufdringlichen Mitleidsbekundungen dermaßen zermürbt, dass sie zu dem Befund kam, gutes Benehmen sei für das Wohlergehen entscheidender als ein gutes Herz«. Elinor, die Sanfte, alles Verzeihende ist sogar so großherzig zu denken, »obwohl ich mich gerne hätte trösten lassen, war ich froh, dass ich anderen das Wissen ersparen konnte, wie sehr ich litt«.
Das Ganze lässt sich natürlich als Sittenbild einer (teils schon verarmten) Aristokratie begreifen. Nur geht »Vernunft und Gefühl« ebenso wenig in der Handlung auf, wie Schillers »Wilhelm Tell« in der Zusammenfassung von Ernst Bloch: Ein Mann schießt auf Äpfel.
Die Irrungen, Wirrungen und Wendungen und der Zusammenprall von »Vernunft und Gefühl« werden von einer Sprache getragen, die keine Haupt- und Staatsaktionen braucht, um eine ganze Gesellschaft zu beschreiben. Kein Wort über die Französische Revolution, kein Gedanke an die industriellen Veränderungen, die sich ankündigen. Und doch sind deren Auswirkungen zu erkennen.

Sigrid Lüdke-Haertel
Jane Austen: Vernunft und Gefühl. Roman.
Aus dem Englischen von Andrea Ott.
Manesse Verlag, Zürich, 410 S., 26,95 €

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