Fritz Rémond Theater fesselt mit dem Klassiker »Der Inspektor kommt«

Wenn der Sühneengel ermittelt

Aus dem Nichts platzt der Inspektor in die abendliche familiäre Feierstunde. Und in das Nichts wird er wieder verschwinden. »Ein Inspektor kommt« von John Boynton Priestley ist ein Schauspiel, ein Thriller um den Selbstmord einer verzweifelten jungen schwangeren Arbeitslosen, Eva Smith, die ihr trauriges Schicksal mit einem tödlichen Schluck aus der Säureflasche schließt. Keine Bange: Ihr Anblick bleibt dem Publikum des Fritz Rémond Theaters erspart, doch Inspektor Goole vergewissert uns mehr als einmal, was für ein schlimmer der ist.
Er tut es mit gutem Grund: Der den Adelsstand anstrebende, herzlose Fabrikbesitzer Arthur Birling und jeder wie jede der Seinen (Gattin, Sohn, Tochter und ihr An-Verlobter) haben sich, wie Goole nach und nach in faszinierender Akribie enthüllt, an der armen Eva vergangen. Aus Wollust, aus Habgier, aus Neid, aus Hochmut, aus Eifersucht und manchem mehr. Die glorreichen sieben biblischen Todsünden kommen da schon zusammen. Dazu passt, dass der Autor seinen jeden Einspruch hinweg fegenden Ermittler zu einer Art richtendem Racheengel in der verderbten Welt des Egoismus macht. Gooles zürnende Überführung  lässt die Welt der Birlings aus den Fugen brechen – wie sich nach der Pause auch bei Fritz Rémond (Bühne: Bettina Neuhaus) sinnfällig schön vermittelt.
Tatsächlich ist das 1945 in Moskau uraufgeführte Stück mindestens doppelbödig. Der engagierte Sozialist Priestley hat es in das Jahr 1912 in eine Gesellschaftsschicht plaziert, die sich, vom grenzenlosen Fortschritt überzeugt, im Rausch ihres ökonomischen Erfolgs suhlt – und völlig blind ist für die sozialen Bedingungen ihrer Wohlfahrt und deren Folgen. Eine zeitlose, durchaus gegenwärtige  Blindheit, die »An Inspector Calls« zum Evergreen macht.
Regisseur Thomas Weber-Schallauer belässt das klassisch in einem Raum und an einem Abend spielende Stück mit berechtigtem Vertrauen im vorgegebenen Kontext, gibt dem Publikum aber durch geschickt eingesetzte Musik das Gefühl, auf dem heimischen Sofa einen Durbridge-Fernsehkrimi zu erleben. Das olivgrüne Wohnzimmer der Birlings ist mit Ess-, Servier- und Telefontisch minimal bestückt und unterstützt die volle Konzentration auf Dialoge und Figuren, von denen neben Benedict Freitags unnahbar missionarischem Underdog-Inspektor am meisten die distinguierte Mutter Iris Atzwanger imponiert. Mit Christian Fischer als Vater, Istvan Vintze als Verlobtem, Daniel Heck als hyperlabilem schnöseligem Jungalk und Carolin Freund in der schönen Rolle der geläuterten jungen Sheila kommt ein bis zu seinem alle verblüffenden Ende fesselndes Spiel ohne Schwächen zustande. Volles Haus, großer Applaus.

gt (Foto: © Helmut Seuffert)
Bis 27. November: Mo.–Sa. 20 Uhr, So. 18 Uhr
www.fritzremond.de

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